Helmut Neuroth kann sich noch gut erinnern: „Ich bin immer übers Dach geklettert“, erzählt der gebürtige Nieder-Ramstädter. So konnte er in die Schusterwerkstatt...
NIEDER-RAMSTADT. Helmut Neuroth kann sich noch gut erinnern: „Ich bin immer übers Dach geklettert“, erzählt der gebürtige Nieder-Ramstädter. So konnte er in die Schusterwerkstatt hineinlugen, die gegenüber seinem Elternhaus in der Kirchstraße, in der Gaststätte „Goldener Löwe“, eingerichtet war. Hier hätten ihm französische Zwangsarbeiter Schokolade zugesteckt, die sie selbst vom Roten Kreuz aus Frankreich erhalten hatten. Diese und viele andere Geschichten erzählten Zeitzeugen am Pfingstsonntag im Rahmen des Verschwisterungsbesuchs – die Partnerschaft gibt es seit 1981 – der französischen Gäste aus Mühltals Partnergemeinde Nemours.
Im Mittelpunkt stand das Thema Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Mühltal, um das sich vor allem Edgar Schuchmann vom Arbeitskreis Heimatgeschichte verdient gemacht hat. 2015 gab es dazu eine große Ausstellung. Gemeinsam mit Berhard Hein hat Schuchmann die 22 französischen Gäste bei einer Busrundfahrt durch die Ortsteile zu Stätten geführt, an denen französische Zwangsarbeiter im Krieg gearbeitet haben und untergebracht waren. Marianne Hohlmann, Ginette Reinhardt und Elke Langsdorf übersetzten für die Gäste. Zudem stellten die Heimatforscher Gästen und Gastgebern eine Broschüre auf Französisch und Deutsch zur Verfügung. Jean-Pierre Béranger, Vorsitzender des Verschwisterungskomitees von Nemours, betonte beim Festabend, dass die Freundschaft zwischen beiden Orten, „ein wichtiger Sockel für ein lebendiges, friedvolles Europa“ sei. Mit dabei waren auch Nemours Bürgermeisterin Anne-Marie Marchand und Mühltals Bürgermeister Willi Muth.
„Eine beeindruckende Initiative“, lobt Dominique Goudet aus Nemours, „es ist wichtig, daran zu erinnern, was geschehen ist.“ Auch der Großvater ihres Mannes Daniel Goudet sei als Kriegsgefangener in Deutschland gewesen. Daniel Goudet ist im Austausch der Feuerwehren der beiden Partnergemeinden engagiert. Beim Kaffeetrinken am Nachmittag in der Scheune des früheren landwirtschaftlichen Betriebs Bayer in der Bahnhofstraße – hier haben ebenfalls französische Kriegsgefangene gearbeitet – berichteten Zeitzeugen, die der Arbeitskreis Heimatgeschichte eingeladen hatte. Die Begegnung hatte die Vorsitzende des Verschwisterungskomitees, Chris Krämer, mit einem Team organisiert. Aus Erzählungen ihrer Eltern weiß Margarethe Frank aus Nieder-Beerbach, dass sie ein gutes Verhältnis zu dem Franzosen Gilbert Starosse hatten, der drei Jahre lang auf dem Hof ihres Vaters Georg Frank gearbeitet hat. Auch eine ältere Dame aus Nieder-Beerbach erinnert sich, dass ihre Eltern Wert darauf legten, dass der französische Arbeiter mit ihnen gemeinsam am Tisch aß.
Zwischen 1939 und 1945 waren nach Recherchen Schuchmanns 1335 Zwangsarbeiter in Nieder-Ramstadt, Traisa, Nieder-Beerbach, Waschenbach und Frankenhausen beschäftigt, davon 268 Franzosen, ein Drittel kam aus Russland. Die Männer und Frauen arbeiteten in Fabriken wie Wacker & Dörr, in Landwirtschaft und Handwerksbetrieben. Untergebracht waren sie in Lagern wie dem Schützenhof neben der heutigen TSV-Turnhalle.
Nach einem Besuch in Schwetzingen am Pfingstmontag kehrten die Gäste nach Nemours zurück.