Der Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge bietet einen besonderen Stadtrundgang an: Mit dem Smartphone in der Hand kann man 15 Stationen besuchen, an denen jüdische Schicksale in...
ZWINGENBERG. An der Bergstraße wird Geschichte digital und hautnah. Seit 1999 unternimmt der Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge bereits Führungen durch die Stadt zur örtlichen Geschichte des Nationalsozialismus. Nun wurde das Angebot digital erweitert – so wird seit Neuestem auf der Webseite des Vereins ein Stadtrundgang durch die lokale Geschichte in der Nazi-Zeit zum Herunterladen auf das eigene Smartphone angeboten.
Mit dem Smartphone in der Hand kann man auf dieser blau gekennzeichneten Route 15 Stationen besuchen, die mit grünen Symbolen sichtbar gemacht werden. Ausgangspunkt der Nummer eins ist die Synagoge in der Wiesenstraße – heute in Privatbesitz und der Startpunkt des virtuellen Rundgangs auf den Spuren von Verfolgung und Widerstand in der Nazi-Zeit.
Anstelle des zum Wohnhaus umgebauten Gebäudes ist auf dem Smartphone-Bildschirm ein altes Schwarz-Weiß-Foto der Synagoge mit ihrer Bogenfassade zu sehen. Man erfährt, dass die jüdische Gemeinde bei Erbauung 1903 genau 55 Mitglieder hatte, die in bescheidenen Verhältnissen lebten. Neben dem Sakralraum rechts vom Eingang gab es die Lehrerwohnung und die Wohnung für die christlichen „Schawwesgoi“, die für die Juden am Sabbat verbotene Arbeiten machten.
Man erhält einen Einblick, wie in der Nazizeit gegen jüdische Mitbürger vorgegangen wurde – von Anschuldigungen über Brandstiftung und internationale Gräuel sowie Boykotthetze bis zum Beschluss des Zwingenberger Gemeinderats von 1935 zur „Ausschaltung des Judentums“. Der Smartphone-User erfährt, dass die Aufbahrung des toten Sohns des „Schawwesgoi“ im Gebäude in der Pogromnacht 1938 die völlige Zerstörung der Synagoge verhinderte. Hier steht auch, dass im November jenes Jahres der letzte Zwingenberger Jude, Moritz Schack, das Gebäude für 6000 Reichsmark verkaufte. 1964 wurde es umgebaut.
Altes Rathaus fest in brauner Hand
Die Information über Schack und das damals offizielle Zwingenberg wecken die Neugierde – deshalb führt der nächste Weg einmal über die B 3 zum Zwingenberger Marktplatz. Als Nummer sechs auf dem virtuellen Rundgang wird das gerade renovierte Alte Rathaus aufgeführt. In den Erläuterungen steht, dass hier die NSDAP-Ortsgruppe Zwingenberg ihren Sitz hatte und die Partei damals eine stürmische Entwicklung in der Stadt nahm.
Bei der Reichstagswahl im Juli 1932 hatte sie einen Stimmenanteil von über 50 Prozent, während im Reichsdurchschnitt 37 Prozent ihre Stimme für die NSDAP abgaben. Die Gemeindeverwaltung wurde gleichgeschaltet und der Bürgermeister Adam Gerhard durch Georg Adam Kissel von der NSDAP ersetzt. Der virtuelle Führer informiert zudem über den weiteren unrühmlichen Verlauf der Ortsgeschichte unter der NSDAP-Herrschaft.
Vom Marktplatz aus geht es in die Obergasse, wo im Haus Nummer 3 Moritz Schack lebte. Er war gelernter Metzger – konnte aber durch Verletzungen aus dem Ersten Weltkrieg seinen Beruf nicht mehr ausführen. Deshalb verkaufte der mit Eisernen Kreuzen für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg ausgezeichnete Schack Tabakwaren in Gaststätten.
Er war mit der aus einer alten jüdischen Zwingenberger Familie stammenden Martha Rothensies verheiratet und hatte mit ihr fünf Kinder. Ihre Wohnung in der Obergasse wurde in der Pogromnacht von SS-Leuten verwüstet. Martha Schack beging nach dem Wegzug nach Frankfurt dort vermutlich Selbstmord. Moritz Schack starb 1943 in Auschwitz. Ihre Kinder überlebten die Nazi-Zeit und wanderten in die USA und nach Mexiko aus.
Einer, der all diese Geschichten kennt, ist Fritz Kilthau. Er ist Vorsitzender des Arbeitskreises Zwingenberger Synagoge, der diesen virtuellen Stadtrundgang in Zusammenarbeit mit Dominik Fließ editiert hat. „Wir haben schon viele positive Rückmeldungen dazu erhalten, unter anderem auch von der Darmstädter Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“, berichtet er. Kilthau sieht in der Nutzung der modernen Medien Chancen. „Natürlich ist der virtuelle Rundgang nicht vergleichbar mit einem persönlich geführten Gang durch Zwingenberg, bei dem Rückfragen und Gedankenaustausch wichtiger Bestandteil sind“, räumt Kilthau ein. „Allerdings gibt es schon jetzt Überlegungen im Verein, den virtuellen Rundgang um eine gesprochene Version zu erweitern.“