Digitales Klassenzimmer: "Normal ist, dass nichts funktioniert"

Seit Oktober 2018 im Amt: der hessische Landesschulsprecher Johannes Strehler. Foto: Atmaca

Im Januar 2019 hat Hessen den Vorsitz in der Kultusministerkonferenz übernommen. Ein Kernauftrag: Entwicklung einer deutschlandweiten Digitalstrategie für Schulen. Wie digital...

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HESSEN. Im Januar 2019 hat Hessen den Vorsitz in der Kultusministerkonferenz übernommen. Ein Kernauftrag: Entwicklung einer deutschlandweiten Digitalstrategie für Schulen. Wie digital sind die hessischen Klassenzimmer, wie digital sollten sie sein? In einer mehrteiligen Gesprächsreihe mit Experten, Lehrern, Schülern, aber auch Kritikern, wird dieses Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. In Teil V steht der Hessische Landesschulsprecher, Johannes Strehler, Rede und Antwort.

Wie ist es um die Digitalisierung an Hessens Schulen bestellt?

Sehr mangelhaft, wenn man eine Note vergeben müsste. Das Niveau, das man aus dem Alltag und von Zuhause kennt, ist nicht gegeben. Die Schulen hängen da hinterher. Fast überall herrscht Handyverbot. Es gibt zwar einige Pilotschulen, an denen es gut läuft, aber noch immer fehlt es an vielen Schulen an flächendeckendem Internet. Laptops sind Mangelware, Computerräume sind Mangelware. Man hat nie das Niveau, das man haben möchte. Beamer gibt es auch nicht genügend, sondern immer noch die alten Overheadprojektoren mit Folien. Normal ist, dass nichts funktioniert. Manchmal gibt es Internet, aber der Beamer ist kaputt, oder umgekehrt.

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Was sind über die Ausstattung hinaus die großen Problemfelder?

Der Umgang mit dem Thema. Es fehlt an einheitlichen Konzepten. Die Schulen sind darauf angewiesen, dass die Lehrer sich die Möglichkeiten des digitalen Unterrichts selbst erarbeiten. Die Politik beruft sich viel zu sehr auf die Selbstständigkeit der Lehrer. Digitaler Unterricht und digitale Bildung dürfen nicht davon abhängen, wie engagiert die Lehrer an einer bestimmten Schule sind. Und auch das Fortbildungsangebot für die Lehrer ist schlecht. Viele Lehrer wollen sich fortbilden, aber der Markt ist nicht da.

Gibt es auch etwas, das gut läuft?

Inzwischen ist der Wille da. Ich hatte lange das Gefühl, die meisten Lehrer lehnen alles Digitale komplett ab. Das stimmt aber nicht. Aber es fehlt am Geld. Ich hatte ein paar Gespräche mit Schulleitern und die beklagen genau das: Die Lehrer bilden sich fort, sie schreiben Konzepte, sie überlegen sich was, aber jetzt fehlt es an Computern, an einer Ausstattung, die funktioniert. Es bringt ihnen nichts, wenn sie eine Powerpoint-Präsentation oder einen Film vorbereitet haben, aber sie die Ausrüstung nicht haben, um den Schülern die Präsentation oder den Film zu zeigen.

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Was ist die Erwartungshaltung aus der Schülerschaft an die Politik?

Das etwas passiert. Das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern ist ja nur ein Beispiel von vielen. Es wird zwar laufend gesagt, dass etwas passiert, aber die Schüler merken davon nichts. Es muss jetzt wirklich mal Geld in die Hand genommen werden, in einer Größenordnung, die eine andere ist als die, um die es zurzeit geht. Bis jetzt werden wir nur vertröstet. Die Generationen, die in den nächsten Jahren von den Schulen abgehen und auf den Arbeitsmarkt drängen, sind von zu Hause aus mit Handys ausgestattet, die googeln alles, aber sie haben nur den technischen Umgang mit den Geräten gelernt. Wissen aber nicht, was eine seriöse Quelle ist, was Fake News sind und wie man sie erkennt. Es ist wichtig, dass sie es lernen. Da muss die Politik jetzt nachziehen und das Bildungssystem so anpassen, dass es auf die Schüler von heute zugeschnitten ist.

Zugeschnitten, was heißt das konkret?

Es geht um Medienkompetenz. Man muss den Schülern beibringen, kritisch mit Informationen umzugehen. Es gibt nun einmal Fake News. Kritisches Denken muss man beigebracht bekommen, das ist ja nichts, was man von Geburt aus kann. Das ist ein Lernprozess. Und kritisches Denken lässt sich nicht abstrakt lernen. In der Schule zu hören, Facebook sei schlecht, bringt nichts. Die Schüler müssen davor sitzen. Man muss eingeloggt sein, um den kritischen Umgang mit den Social-Media-Kanälen zu lernen.

Was muss das Ziel einer digitalen Bildungsoffensive sein?

Das ganz große, vielleicht auch etwas utopische Ziel sollte sein, dass das ganze Bildungssystem einmal infrage gestellt, überarbeitet und auf den neuesten Stand gebracht wird. Das kurzfristige Ziel muss sein, dass die Schüler, die die Schule verlassen, vorbereitet sind auf den Alltag und das Berufsleben. Dazu muss Digitalisierung in der Schule so gelebt werden, wie sie im Alltag gelebt wird.

Muss Schule komplett neu gedacht werden?

Ich denke, die Individualität der Schüler muss im Fokus stehen. Wir müssen wegkommen von diesem System, dass jemand, der in Mathe schlecht ist, trotzdem in die nächste Klasse wechselt, um dann noch schlechter in Mathe abzuschneiden. Oder er bleibt sitzen und muss die ganze Klasse wiederholen, obwohl er in vielen anderen Fächern gut mitgekommen ist. Wir sollten in Modulen arbeiten, so, wie es die skandinavischen Länder vormachen. Wer in einem Modul schlecht abschneidet, wiederholt das Modul und nicht gleich die ganze Klasse. So eine Modularisierung kann man mithilfe der Digitalisierung verdammt einfach ermöglichen. Es müssen ohnehin neue Konzepte her. Und da sollte man es gleich richtig machen und nicht den Fehler begehen, die Computer aufs alte System draufzuwerfen, sondern das System um die Computer herum neu zu bauen.

Was muss konkret als nächstes passieren und warum?

Alle Schulen brauchen flächendeckendes Internet und eine moderne Ausstattung. Nicht in zehn Jahren, nicht in fünf Jahren, sondern sofort. Es müssen endlich Milliarden fließen.

Was droht, wenn das nicht passiert?

Dann wird es mehrere Schülergenerationen geben, die keine digitale Bildung erfahren haben, die sich im Alltag nicht zurechtfinden, sich im Berufsleben nicht zurechtfinden. Denn dort ist die Digitalisierung in weiten Teilen bereits angekommen.

Wie wird das Thema Digitalisierung in der Schullandschaft diskutiert? Was für Meinungen gibt es da?

Im Gespräch mit älteren Lehrkräften nehme ich oft wahr, dass sie wenig Verständnis haben für das Leben der jungen Generation. Für uns ist es total normal, das Handy immer dabei zu haben. Und oft hört man noch, 'Ach, das braucht ihr doch gar nicht', 'leg doch mal das Ding weg'. Wir Schüler sind da anderer Meinung. Einen Alltag ohne Smartphone gibt es nicht. Und wir finden es lächerlich, wenn wir im Englischunterricht ein Wörterbuch aufschlagen sollen, obwohl wir eines auf dem Handy installiert haben. Oder wenn wir etwas nicht googlen dürfen, obwohl uns der Hintergrund interessiert, nur weil das Handy im Unterricht verboten ist.

Das Smartphone wird also mit etwas Schlechtem verbunden. Alle starren immer aufs Handy ist gleichbedeutend mit Handysucht?

Genau. Natürlich gibt es Suchtfälle. Vielleicht sind wir ja sogar alle süchtig. Aber die Frage nach einem Leben ohne Smartphone stellt sich trotzdem nicht mehr.

Eine Pilotschule im Bereich Digitalisierung ist die Grundschule in Grävenwiesbach: Ab wann sollte deiner Meinung nach der Unterricht mit digitalen Medien beginnen?

Man muss es nicht übertreiben, aber ich glaube auch, dass es eine Berechtigung gibt, die digitalen Medien schon ab der ersten Klasse einzusetzen. Zumindest gelegentlich. Natürlich muss jeder den Umgang mit Stift und Pinsel lernen, aber das heißt nicht, dass die Möglichkeiten, die die digitalen Geräte bieten, ausgeschlossen werden sollten.

Hast Du Erfahrungen in anderen Ländern gemacht, die Vorbild sein könnten?

Ich hatte nicht die Möglichkeit, in Skandinavien in die Schule zu gehen, da muss es sehr interessant sein. Aber ich bin ein Jahr lang in den Vereinigten Staaten in die Schule gegangen. Dort gehört der Computer zum Alltag. Wir haben sehr viel mit Laptops gearbeitet, die man in vielen Schulen in Deutschland ja nicht einmal benutzen darf. Dort gab es für jeden Schüler einen Laptop. Und ein Handyverbot gibt es auch nicht. Im Gegenteil, wir haben sie genutzt. Beispielsweise um Fotos für eine Präsentation zu machen. Das Foto habe ich dann an meine Schul-Mailadresse geschickt, es in die Präsentation eingefügt und die Präsentation dann an den Lehrer geschickt und er hat sie bewertet. Ich war dort der einzige, der sein Handy in der Tasche hatte. Alle anderen haben es gleich auf den Tisch gelegt.

Was ist in Deinen Augen die primäre Aufgabe von Schule: Persönlichkeitsentwicklung oder Fitwerden für den Arbeitsmarkt?

Primäre Aufgabe ist sicher die Persönlichkeitsentwicklung. Wir arbeiten acht Stunden am Tag und 16 Stunden leben wir. Die Schule soll mich zu einem mündigen Bürger machen, der sich in der Gesellschaft zurechtfindet. Oft verkennt Schule diese Aufgabe und man muss immer wieder daran erinnern, dass genau das ihre Aufgabe ist. Und was den Arbeitsmarkt angeht, muss Schule mich nicht darauf vorbereiten, der beste Maurer oder der beste Anwalt zu werden. Aber sie muss mich auf einen Arbeitsmarkt vorbereiten, in dem die Digitalisierung längst angekommen ist.