Windeln im Grundschulalter? Ein Tabu ohne klare Datenlage

An Grundschulen im Lahn-Dill-Kreis gibt nach Berichten von Schulleitungen eher Bedarf für Windelpakete als für Menstruationsartikel.

In Mittelhessen machten Äußerungen über nicht trockene Grundschüler die Runde. In Darmstadt ist man bei solchen Trendaussagen vorsichtig – doch vereinzelt könne es zutreffen.

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Darmstadt. Der Charme des Experimentierens ist, selbst bei Fehlschlägen noch brauchbare Erkenntnisse zu bekommen. Als die Bildungsverantwortlichen im Lahn-Dill-Kreis die Wirkung von Menstruationsartikeln (Menstruationsarmut) testen wollten, endete der Versuch teilweise im Fiasko. Unter den Einrichtungen waren auch Grundschulen, deren Schüler die Utensilien mehr oder weniger zerlegten. Die vorläufige Quintessenz: Nicht Menstruationsartikel seien nötig, sondern mehr Windeln – denn unter den Sechs- bis Zehnjährigen seien längst nicht alle trocken. Gibt es das tatsächlich oder bislang unbekannt, da ein Tabu?

Zumindest reichte die Evaluation der Ergebnisse, die im Dezember vorgelegt wurde, aus Sicht der Verantwortlichen aus, daraus ein überlokales Phänomen zu formulieren. Es sei zu vermuten, so die Schlussfolgerung der Schulbau-Abteilungsleiterin, dass dies „viele Schulen betrifft“. Mehrere Rektoren hätten dies schließlich zurückgespiegelt.

3 bis 5 Prozent der Zehnjährigen noch nicht trocken

Tatsächlich kann es vorkommen, dass Kinder eine verspätete Sauberkeitsentwicklung aufzeigen. Laut der Darmstädter Psychotherapeutin Bärbel Venema, die seit Jahrzehnten mit Kindern beruflich zu tun hat, sei es in der Pädiatrie und Kinderpsychotherapie gängige Größenordnung, dass acht von zehn Kindern im Alter von bis zu 5 Jahren ihre Sauberkeitsentwicklung eigentlich abgeschlossen haben. „Bei 3 bis 5 Prozent der Zehnjährigen ist das noch nicht der Fall“, ergänzt sie. Inwiefern daraus aber ein Anstieg abgeleitet werden könne, sei ohne praktische Beobachtungen nicht einschätzbar. Sollte dies der Fall sein, müsste es eigentlich in Früherkennungsuntersuchungen bemerkt worden sein.

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Hier stößt die Empirie aber schnell an ihre Grenzen. Zwar sind bei den Schuleingangsuntersuchungen die Gesundheits-Basics wesentlich – also etwa motorische Fähigkeiten oder Sinneswahrnehmungen. Die Beherrschung von Hygienetechniken spielt dabei aber „regelhaft keine Rolle“, bestätigt das Gesundheitsamt auf Anfrage.  Dem Kinder- und Jugendärztlichen Dienst (KJÄD) liegen soweit keine Erkenntnisse vor, welche die Thesen aus Mittelhessen stützen würden. Allerdings räumt auch der KJÄD ein, dass es keine belastbare Datengrundlage gebe.

Gänzlich an den Haaren herbeigezogen ist das Phänomen zumindest aus einem Umstand heraus nicht: Windelgrößen nehmen tatsächlich zu. Gegenüber der „FAZ“ bestätigten Hersteller und Drogisten diese Entwicklung. Die Nummern 6, 7 oder 8 sind längst keine Seltenheit mehr. Auch eine andere Beobachtung gebe es: Das kleine Geschäft landet im Töpfchen, das große in der Windel. Toiletten, so die These, könnten demnach Angstgefühle verursachen.

Ein „Rückfall” ist nicht ausgeschlossen

Auch in Darmstädter Schüler- und Elternkreisen sei es vereinzelt Thema gewesen, wenn Schüler auf Klassenfahrten nächtens ein solches Schutzutensil tragen, wie eine Mutter im Hintergrundgespräch erläutert. Darüber wolle man aber lieber nicht viel Aufhebens machen. Jugendpsychiaterin Venema kennt außerdem den Effekt, dass nach abgeschlossener Sauberkeitsentwicklung ein „Wiedereinnässen“ möglich sei. „Und zwar im Kontext emotionaler Krisen“, nennt die Expertin ein Beispiel.

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Auffälligkeiten können Darmstadts Kinderärzte bislang jedenfalls nicht beobachten. „Wir können keine generelle Zunahme feststellen“, sagt Dr. Markus Landzettel. Auch eine Blitzumfrage im bundesweiten Kinderärztenetz komme zu keinem gegenteiligen Befund.