Wander-Idol Christine Thürmer tritt in Darmstadt auf

In gemütlichem Tempo geht Christine Thürmer Weitwanderwege in aller Welt an. © Christian Biemann

Sie gilt als die meistgewanderte Frau der Welt - alles keine Strapaze, sagt sie. Christine Thürmer im Gespräch über Glücksmomente in der Wildnis und ihre Heimat im Plattenbau.

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Darmstadt. Sie gilt als die meistgewanderte Frau des Planeten: Christine Thürmer ist seit 15 Jahren unterwegs auf den Weitwanderwegen vieler Länder, aktueller Pegelstand: rund 60.000 Kilometer. Sie ist anders unterwegs als viele Stars der Szene. Mit leichtem Gepäck und gemütlichem Tempo hat sie sich den Trailnamen "The German Tourist" erworben - und den Respekt vieler jüngerer wie erfahrener Kollegen. In diesem Sommer schlug sie sich durch die Wildnis von Oregon, dann quer durch Polens Osten. Den Rest des Jahres schreibt und redet sie vor Publikum über ihre Erlebnisse, jetzt beim Reportage-Festival "Weitsicht" in Darmstadt. Im Interview erzählt sie über Glücksmomente in der Fremde und die Miesepetrigkeit in der Heimat - und warum sie keine Ausrede gelten lässt, sich ins Freie zu wagen.

Frau Thürmer, was bedeutet Glück für Sie?

Zum Beispiel ein Schokoriegel, sowas kann extrem glücklich machen.

Das müssen Sie erklären.

Das hängt damit zusammen, wie sich bei meiner Art zu wandern die Glücksschwelle verändert.

Was für eine Schwelle?

Schauen Sie: Ich hab mein Gepäck ja reduziert bis aufs Minimum, insgesamt schleppe ich nur etwa fünf Kilo mit mir rum. Dann wird jedes kleine Bisschen, das über die Grundbedürfnisse hinausgeht, zum Luxus. Meine Lieblingsanekdote dazu: Auf meiner allerersten Langstrecken-Wanderung bin ich gleich mal von Mexiko nach Kanada spaziert. Da gibt es eine Etappe, auf der kann man zehn Tage lang keinen Proviant kaufen. Ich war an Tag neun angekommen und hatte noch ein Frühstück, ein Abendessen und 27 M&M. Die hatte ich nach Farben sortiert und genau eingeteilt, meine Gedanken drehten sich nur noch ums Essen, Essen, Essen. Da begegneten mir zwei Wochenend-Wanderer, mit denen ich ins Gespräch kam. Zum Abschied sagten sie: Wir haben noch etwas Proviant übrig - möchtest du einen Schokoriegel? Ich nahm ihn, riss ihn auf und biss rein - ein Glücksflash, besser als jede Droge! Meine erste Erkenntnis: Wenn die mir 100 Dollar geschenkt hätten, wäre ich nicht halb so glücklich gewesen. Zweitens: Das Glück auf Reisen ist ein ganz anderes als zu Hause, es ist direkt, es ist körperlich spürbar. Instant satisfaction!

In gemütlichem Tempo geht Christine Thürmer Weitwanderwege in aller Welt an.  Foto: Christian Biemann
Mehr braucht's nicht: Ihr gesamtes Wandergepäck hat Christine Thürmer für dieses Drohnen-Foto ausgebreitet. Etwa fünf Kilo wiegt das Ganze. Foto: Peter von Felbert
An möglichst versteckten Plätzen schlägt sie ihr Zelt auf, versorgt sich mit einem kleinen Kocher selbst.   Foto: Peter von Felbert
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Was können Sie von diesen Glücksgefühlen in ihren Alltag in Berlin-Marzahn hinüberretten, wenn Sie wieder zuhause sind?

Total viel! Ich wohne hier im Plattenbau, siebter Stock von elf, in einer winzigen Wohnung, für die ich nur 250 Euro zahle. Aber ich finde das großartig - im Vergleich zu dem Zelt, mit dem ich sonst unterwegs bin, der totale Luxus. Ich kann hier außerdem jeden Tag frisches Obst und Gemüse einkaufen. Ich habe drei Discounter vor der Haustür, Wahnsinn. Auch das macht glücklich.

Gibt es auch Dinge, die Sie befremden, wenn Sie nach einem halben Jahr unter freiem Himmel wieder in der Enge der Stadt sind?

Schon - vor allem wundere ich mich darüber, wie schlecht die Leute hier drauf sind. Die Grundstimmung ist hier negativ. Da muss ich mich erstmal runterregeln, denn ich empfinde mich als von Herzen glücklicher Mensch. Ich brülle auch mal einen Baum an oder werf meine Stöcke wütend an eine Bergwand, wenn ich unterwegs einen schlechten Tag erwische. Aber grundsätzlich bin positiv und sprudele über vor Ideen. Da empfinde ich viele Leute hier als eher lauwarm. Für die ist alles latent blöd oder nervig. Aber in Ihrer Frage steckt schon eine Wertung drin, wenn Sie sagen: die Enge der Stadt.

Ist doch eng, so im Verhältnis zur weiten Welt.

Diese Sicht ist aber typisch für Leute, die sich in ihrem Arbeitsalltag eingesperrt fühlen und dann beim Wanderwochenende den Ausbruch erleben wollen. Bei mir ist es dagegen so: Ich gehe seit 15 Jahren ein halbes Jahr Wandern, die anderen sechs Monate lebe ich hier. Das ist zwar ein Kontrast, aber ich kann sagen: Ich hab' für mich das perfekte Gleichgewicht gefunden.

Ein kaputter Fahrkartenautomat in der Berliner U-Bahn kann Sie nicht mehr aus der Fassung bringen?

Doch, bei sowas kann ich richtig sauer werden. Es ist ja nicht so, dass ich jetzt so total omm-mäßig durch mein Leben laufe.

Um dieses Leben beneiden Sie aber viele Menschen, Ihre Vorträge sind oft ausverkauft, Ihre Bücher Bestseller. Aber selbst mal mit leichtem Gepäck für sechs Monate aussteigen, das wagen die meisten dann doch nicht. Welche Ausreden hören Sie am häufigsten?

Am häufigsten: Dafür fehlt mir das Geld. Das entkräfte ich dann, in dem ich genau vorrechne, was es kostet - mit 1000 Euro im Monat kann man zurechtkommen. Das bedeutet: Hier bei uns in Westeuropa kann sich fast jeder die Kohle für eine Weitwanderung zusammensparen - wir reden jetzt nicht von alleinerziehenden Müttern, aber die meisten könnten es.

Wollen es aber nicht.

Genau - diese Ausrede bedeutet eigentlich: Ich will das Wandern nicht genug.

Ausrede Nummer zwei?

Die lautet: Ich bin nicht fit genug. Da sage ich nur: Leute, guckt mich an: Plattfüße, X-Beine, fünf Kilo Übergewicht! Ich bin keine Athletin, sondern der Typ gemütliche Hausfrau. Wenn ich das kann, könnt Ihr das auch. Wir sprechen ja nicht von Extrem-Bergsteigen. Es geht nur darum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das geht in jedem Alter.

Die nächste Ausrede: Ich bin viel zu alt.

Genau! Ich rede ja öfter vor älterem Publikum. Wenn die mit dieser Ausrede kommen, kontere ich: Der älteste Wanderer, den ich kenne und der in fünf Monaten von Mexiko nach Kanada gelaufen ist, ist 83 Jahre alt. Da ist 60 doch ein super Alter, um anzufangen!

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Trotzdem: Ist es verantwortungsvoll, jeden zu einer solchen Strapaze zu ermuntern?

Ich sage ja nicht: Jeder muss wandern. Und es ist auch gar keine Strapaze. Das erzählen gern die männlichen Vertreter der Szene. Die prahlen damit, wie sie dem Grizzly-Bär begegnet sind und den Schlangenbiss überlebt haben. Aber von diesen Heldenerzählungen bin ich maximal weit entfernt. Das, was ich mache, kann wirklich jeder. Ich bin sehr gemütlich unterwegs, gehe immer mein eigenes Tempo, auch wenn mich alle anderen überholen. Aber ich glaube inzwischen, dass die meisten zu meinen Vorträgen kommen, weil da vorn jemand steht, der ganz normal ist und seinen Traum lebt. Jemand, der das durchzieht, gegen alle vermeintlichen Hindernisse.

Diese Fans verfolgen Sie inzwischen auf Schritt und Tritt. Jeden Tag posten Sie Fotos und Tagebuch-Einträge für Ihre Follower, beantworten jeden Kommentar, jede Frage. Ist das inzwischen Teil Ihres Geschäftsmodells?

Jein. Zum einen hat sich bei mir eine gewisse Routine beim Wandern eingestellt. Da ist der tägliche Austausch mit Freunden oder Fans eine willkommene Abwechslung. Es ist mein Unterhaltungsprogramm, wie andere Leute fernsehen. Und die Tagebuch-Einträge sind auch schon Material für mein nächstes Buch. Zum anderen: Die Bücher und Vorträge gehören für mich zum Leben dazu, aber es geht mir dabei nicht primär ums Geldverdienen. Es ist auch eine Herausforderung an den Intellekt. Ich könnte auch Sponsoren bekommen bei meinem Bekanntheitsgrad, wenn es ums Geld ginge. Aber das will ich nicht, ich will unabhängig bleiben.

Manchmal wirken Sie dabei wie getrieben. Als Sie im September von einer heftigen Wandertour aus Oregon zurückkehrten, schrieben Sie im Blog, sie würden schon wieder fieberhaft nach dem nächsten Projekt suchen. Es wurden 2000 Kilometer mit dem Rad durch Polen, und noch ein paar Schlenker davor und danach, weil's noch nicht reichte. Klingt nicht so nach gemütlicher Hausfrau.

Da muss ich mal ein bisschen ernster und philosophisch werden. Ich habe vor einigen Jahren einen guten Freund verloren, der früh gestorben ist. Das hat mir vor Augen geführt: Die wichtigste Ressource im Leben ist die Lebenszeit - nicht das Geld. Der Knackpunkt: Lebenszeit ist weder planbar noch vermehrbar. Und ich bin ein so neugieriger Mensch, ich habe so viele Ideen, was ich noch alles machen und erleben möchte. Das bedeutet, ich muss mit dieser Ressource gut wirtschaften. Ich habe wirklich noch viel vor, ich möchte gern 90 werden. Aber was ich alles schon erlebt habe, das kann mir keiner mehr nehmen.