Am Stand der Partnerstädte bieten drei Schwestern und eine Tochter aus Ushgorod Spezialitäten an. Eine Auszeit vom Kriegsalltag für sie. In Gedanken sind sie aber bei den Männern.
Darmstadt. Ein eisiger Ostwind bläst den vier Frauen ins Gesicht. Seit zehn Uhr morgens stehen sie auf dem Darmstädter Weihnachtsmarkt, in der Hütte der Partnerstädte, Ostseite Marktplatz, ein zugiges Fleckchen. Anstrengend? Ungemütlich? Kalt? Für die Vier ist es wie Urlaub. Drei Schwestern, eine Tochter aus Ushgorod; froh, zwei Wochen in Darmstadt verbringen zu können. Ludmilla sagt: „Es ist wunderbar, dass wir die Möglichkeit haben, hier Kraft zu tanken und den Leuten hier etwas von uns anzubieten.“
Herzhaftes reichen sie über den Tresen, und Wärmendes. „Wir haben nicht viel“ sagt Ludmilla, „aber es wird jeden Tag frisch gekocht.“ Die Stadt hat dem ukrainischen Quartett ein Apartment zur Verfügung gestellt. In der Küche bereiten sie Speisen vor, die auf deutschen Weihnachtsmärkten eher Exotenstatus haben. Krautgulasch aus den Karpaten. Borschtsch, die legendäre Rote-Bete-Suppe. Schnittchen mit Hirschsalami. Wareniki, gefüllte Teigtaschen; wer Piroggen kennt, wird auch hier anbeißen. Kaviarbrot „mit Wodka“ – heißt: Schnaps muss sein. Davon haben die Frauen eine herrliche Auswahl mitgebracht.
Ein halbes Dutzend Flaschen mit selbstbeschrifteten Etiketten haben sie auf dem Tresen aufgebaut. „Das hat unsere Mutter den Sommer über gemacht“, sagt Oksana, aus allem, was die Karpaten hergeben: Sauerkirsche, Johannisbeere, Tannenzapfen – alles wird gebrannt. Und wärmt nun den deutschen Weihnachtsmarktbummlern Leib und Seele. Auch Mixgetränke sind statthaft. Eben ordert ein älterer Herr Glühwein mit Wodka. Svetlana schenkt ein, bitteschön, und nasdarovje!
Jeden Tag eilen die Menschen in Schutzräume
Zwei Wochen Budendienst, von morgens bis abends; auch zwei Wochen ohne all das, was den Frauen im Kriegsalltag zu schaffen macht. Die Grenzstadt in der Westukraine „ist die einzige Gegend, wo noch nicht geschossen wird“, sagt Ludmilla. Aber Alarm gibt es trotzdem jeden Tag, mehrmals. „Wir können nicht in Ruhe einkaufen, zum Arzt, zur Apotheke; wenn der Alarm kommt, wird alles zugemacht und wir müssen in den nächsten Schutzraum.“
Kleine Kinder müssen dann aus der Kita geholt werden. Schülerinnen und Schüler eilen in die Schutzräume ihrer Schule, wie Jenni, 14, die mit nach Darmstadt gekommen ist. Ihre Schule ist grad eh dicht. Die Klassenräume werden für Geflüchtete aus den anderen Landesteilen benötigt, die weiterhin nach Ushgorod drängen. Mehr als 40.000 sollen es derzeit sein. Niemand von den Frauen am Stand klagt über die Mühe, die Einschränkungen, die durch die vielen Geflüchteten entstehen - zusätzlich zu den Nöten, die der Krieg ohnedies für jede Stadt bedeutet.
Oksana sagt: „Strom und Wasser haben wir nur noch selten am Tag.“ Mal wird die Versorgung vier, mal zehn Stunden abgestellt. Nicht, weil hier ein Elektrizitätswerk von Raketen getroffen wurde: „Wir müssen sparen für die Menschen in den anderen Städten, die keine Energie mehr haben.“ Dankbar seien die Menschen in Ushgorod für die Generatoren, die gerade aus Darmstadt gespendet wurden. EAD und Feuerwehr haben Geräte mit einem Hilfstransport in die Partnerstadt geschafft. „Langsam wird es mit dem Strom besser“, sagt Oksana.
Aus Ushgorod zum Darmstädter Weihnachtsmarkt, das bedeutete für die Frauen erstmal 24 Stunden Fahrt. An der polnischen Grenze neun Stunden Wartezeit im Bus. Wegen Stromausfall. Kein Strom, kein Internet, keine Passkontrolle möglich. Über Krakau kamen die Frauen schließlich nach Südhessen. Nun genießen sie vor allem die Ruhe. Ludmilla sagt: „Man muss hier nicht immer in den Himmel schauen.“ Um zu spähen, ob ein Angriff von oben naht. Schön hell sei es außerdem abends in Darmstadt. Aber es wird doch überall an Beleuchtung gespart, in Schaufenstern, am Schloss, am Lui? Oksana lächelt: „Bei uns ist ab 20 Uhr das Licht aus, überall in der Stadt.”
Der Ehemann spielt als Musiker auf vielen Beerdigungen
Eine Auszeit im Westen - eine Chance, die die Männer der Familie nicht haben. Ein Bruder ist bei der Polizei, in ständigem Einsatz. Er komme schon nicht mehr nach Hause, die Schwestern waschen ihm die Uniform, schicken sie zurück. Einer der Ehemänner ist beim Militär, aber nicht an der Front. Er ist Kapellmeister in der Region Ushgorod. Ludmilla sagt: „Es ist traurig, er spielt im Moment vor allem auf Beerdigungen.“
Musikalisch ist nicht nur der Kapellmeister. Alle in der Familie spielen Instrumente, Gitarre, Akkordeon. Und sie singen. Beim Reporterbesuch am Stand stimmen sie spontan ein Heimatlied an, sanft und seelenvoll: „Kari Ochi“, dunkle Augen, übersetzt Ludmilla. „Wenn ich Flügel hätte, ich würde zu meinem Liebsten nach Hause fliegen“, erklärt sie den Text – „sehr aktuell für uns.“