"Tourette gehört zu mir": Kaffenberger ein Jahr im Parlament

11.03.2020, Hessen, Darmstadt: Der Landtagsabgeordnete Bijan Kaffenberger (SPD) steht vor seinem Wahlkreisbüro in der Darmstädter Innenstadt. Als einziger Sozialdemokrat hatte er bei der Landtagswahl 2018 in Hessen von der CDU ein Direktmandat erobern können. Foto: Frank Rumpenhorst/dpa

Politik ist seine Leidenschaft. Hätte er die Wahl gehabt, hätte sich Bijan Kaffenberger aber eine schönere Zeit für die Parlamentsarbeit gewünscht. Der Mord an...

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DARMSTADT. Bijan Kaffenberger ist bodenständig und heimatverbunden. "Ich bin ein sehr dynamischer Typ", sagt er selbstbewusst über sich selbst. Er spielt Theater, schreibt Bücher, ist Wirtschaftswissenschaftler, seit rund 13 Jahren Mitglied in der SPD - und der 30-Jährige hat Tourette. Seit rund einem Jahr sitzt Kaffenberger für die Sozialdemokraten im hessischen Landtag. Laut der Verwaltung des Parlaments ist er einer der jüngsten Abgeordneten in der Geschichte des hessischen Landtags, der mit einem Direktmandat einen Sitz eroberte.

Politik ist seine Leidenschaft. Seine Erkrankung mit den spontanen, unkontrollierten Bewegungen und Lauten ist für ihn kein Grund zurückzustecken. Seine Generation brauche jemanden, der sich ihrer annimmt. "Jemand, der auch gefühlt mit dem Smartphone in der Hand geboren wurde, aber gleichzeitig den kommunalpolitischen Hinterzimmermuff und den faden Geschmack von abgestandenen Bier auf Ortsvereins-Stammtischen kennt. Derjenige möchte ich sein", schreibt Kaffenberger in seinem 2019 erschienen Buch "Was machen Politiker eigentlich beruflich?"

Bereits als Schüler Mitglied

Kaffenberger hat mit seinen erst 30 Jahren die Ochsentour durch die Partei bereits hinter sich. 2007 noch als Schüler Mitglied in der SPD geworden, saß er im Vorstand des Ortsvereins im südhessischen Roßdorf, im Vorstand der hessischen Jusos, sitzt in der Gemeindevertretung in Roßdorf und im Kreistag des Landkreises Darmstadt-Dieburg. "Ich habe klassisch alle Stationen durchlaufen, die man als Landtagsabgeordneter durchläuft", fasst der Ökonom seine bisherige Parteikarriere zusammen.

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Seine Intention, vor gut einem Jahr für den Landtag zu kandidieren? "Ich wollte selber mehr in die Öffentlichkeit, mehr reden, mehr Eigeninitiative, ein wenig mehr mein eigener Chef sein." Sein Wahlkreis habe die Eigenschaft, dass er sowohl das Stadtleben in Darmstadt, wie auch das Leben im Landkreis Darmstadt-Dieburg miteinander verbinde. "Das zusammenzubringen ist nicht so einfach, aber es ist das Reizvolle." Er habe da einfach "Bock" darauf gehabt.

Bilanz nach einem Jahr

Gut ein Jahr im Parlament, für eine wirkliche Bilanz ist es für Kaffenberger noch zu früh. "Ich musste erstmal auch meine Rolle in der Opposition so ein wenig finden", sagt der 30-Jährige. "Bilanz ist aber ein schwieriges Wort." Politik sei bekanntlich das Bohren dicker Bretter. "Ich habe gerade mal die Bohrmaschine in die Steckdose gesteckt." Er habe auch durchaus Interesse, eine zweite Legislaturperiode dranzuhängen, um Ergebnisse bei den angestoßenen Projekten in der Verkehrs-, Digitalisierungs- oder Bildungspolitik zu sehen. Der Bundestag in Berlin oder das Europaparlament in Brüssel sei für ihn derzeit keine denkbare Alternative.

Eine traurige Bilanz zieht der leidenschaftliche Politiker aber. Er sei jetzt gut ein Jahr im Landtag und musste schon zu zwei Trauerfeiern, sagt er mit Blick auf den Mord an dem früheren Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni vergangenen Jahres und kürzlich dem Anschlag in Hanau. Bei dem Anschlag hatte ein 43-jähriger Deutscher am Abend des 19. Februar aus rassistischen Motiven neun Menschen mit ausländischen Wurzeln erschossen. Weitere Menschen wurden verletzt. Der Sportschütze soll auch seine Mutter getötet haben, bevor er sich selbst das Leben nahm.

Schönere Zeiten, um Politik zu machen

"Wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich mir eine schönere Zeit ausgesucht, um Politik zu machen. Das ist wahrscheinlich das schlimmste im hessischen Landtag", sagt der Sohn einer Deutschen und eines Marokkaners, der nach dem Tod seiner Mutter seit dem 7. Lebensjahr bei seinen Großeltern aufwuchs. Schade sei, dass es bei einigen Politikern die Todesopfer von Hanau gebraucht habe, um zu verstehen, dass die Feinde der Demokratie rechts stehen. Er selbst habe mit zwei Angehörigen der Opfer gesprochen. "Die wollen nicht, dass nur geredet wird, die wollen Handlungen sehen."

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Seine Krankheit habe natürlich nach der Wahl erst einmal zu einem medialen Hype geführt. "Tourette gehört zu mir und ist ein Teil von mir", sagt der gebürtige Darmstädter. "Man kann das ja nicht ausblenden." Er sei aber schon immer normal und offen damit umgegangen, das Selbstvertrauen habe sich natürlich entwickelt.

Von dpa