Suizidprävention in Darmstadt

10.000 Menschen in Deutschland begingen 2021 Selbstmord. © Oliver Berg/dpa
© Oliver Berg/dpa

Der Darmstädter Psychologe und Therapeut Frank Zimmermann spricht über die Hintergründe von Selbstmord und die Bedeutung von Hilfsangeboten.

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DARMSTADT. Die Digitalisierung, erst gefeiert, bringt auch soziale Isolation mit sich. Und dann noch der Corona-Lockdown. Für manche Menschen eine extrem belastende Situation. In Deutschland begingen im Jahr 2021 fast 10.000 Menschen Selbstmord.

„Das sind 10.000 zu viel“, sagte Frank Zimmermann im vollen Hörsaal der TU im „Alten Hauptgebäude“. Er führt eine Praxis für Psychotherapie in Darmstadt, ist Dozent und beim SV 98 Psychologe im Nachwuchszentrum. Die Veranstaltung fand in Zusammenarbeit mit dem Darmstädter Bündnis gegen Depression statt, das seit 2015 das Tabuthema mit Veranstaltungen in die Öffentlichkeit bringt. Denn: Herunterspielen oder Verschweigen nützt niemandem.

Krieg schlägt sich in Statistik nieder

Suizid ist verbunden mit extremem Leid, für den suizidalen Menschen und die Angehörigen. Die äußeren Gründe für Suizidgedanken sind individuell. Statistisch hat im März der Krieg eine wesentliche Rolle gespielt, im Oktober war die Hauptbelastung die Inflation, außerdem Stress (41 Prozent), Isolation (25 Prozent) und überhöhte Schulden (20 Prozent).

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Kinder und junge Menschen mussten während der Pandemie besondere Probleme bewältigen. Der soziale Kontext, Schule, Uni und Freunde fielen weg. Erstsemester und Gaststudierende konnten nirgends anknüpfen. Viele erlebten die Pandemie als Dauerkrise, bei der die psychischen Abwehrkräfte bald verbraucht waren. Zwar hat sich die Rate an Selbsttötungen nicht erhöht, doch sind die Suizidversuche stark angestiegen, „weil der Belastungsstau zu groß wurde und Hilfestellen nicht erreichbar waren“, sagt Frank Zimmermann.

Dies zeige, welch wichtige Rolle Hilfsdienste und Anlaufstellen für Menschen in Not spielen. Seit 1980 ist die Selbsttötungsrate von 18.451 auf in den letzten drei Jahren die Hälfte gesunken. „Dies ist ein Erfolg der besseren Versorgungslage“, meint Zimmermann; und eine Aufforderung an die Politik, das Geld für Hilfsangebote nicht zu kürzen.

Einer der wesentlichen Risikofaktoren ist eine Depression. Sie kann sich äußern durch besondere Gereiztheit und Impulsivität, durch Hoffnungslosigkeit oder ein negatives Selbstbild. Gerade bei jungen Menschen ist dies aber nicht immer leicht zu trennen von der typischen Genervtheit in dieser Altersphase. Cybermobbing, von dem inzwischen jeder fünfte Schüler schon einmal betroffen war, bleibt oft zu lange im Verborgenen, auch weil die Scham der Betroffenen zu groß ist, um darüber zu sprechen. In nahezu allen Fällen haben die Jugendlichen das Gefühl, vollkommen allein zu sein mit ihren Problemen und Gedanken.

Deshalb ist es wichtig, wachsam seinen Mitmenschen zu begegnen und auf Warnhinweise zu achten. Ganz wichtig ist direktes Ansprechen. Dabei geht es nicht um „gute Ratschläge“, sondern ums Fragen und Zuhören: Was ist los mit Dir? Sprechen bedeutet Erleichterung. Wer sich ernste Sorgen macht, sollte auf Hilfsangebote hinweisen, auch wenn derzeit kaum Therapieplätze zur Verfügung stehen.

Darstellung in Social Media findet Nachahmer

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Schnelle Hilfe von geschulten Ansprechpartnern gibt es inzwischen in fast jeder Stadt, wie in Darmstadt beim Projekt „Anna“. Es gibt Seelsorge- und Hilfetelefone sowie Online-Foren. Wenn sich Jugendliche dort untereinander austauschen, könne dies hilfreich sein, so der Experte. Absolut kontraproduktiv sei die Darstellung von Suiziden in den Medien oder über Social Media. Es sei erwiesen, dass dies Nachahmer findet.

Hausärzte, Lehrer sowie vor allem Gleichaltrige in Schulen und Unis sollten geschult werden. Inzwischen stehen Apps zur Verfügung, die fachkundig online durch die Krise leiten. Ernstnehmen, rechtzeitiges Erkennen und Ansprechen kann Leben retten. Fachkompetente Beratung ist der zweite entscheidende Schritt.