Wenn die in Darmstadt geborene Prinzessin Victoria Alix Helena Louise Beatrix auf ihre Großmutter Queen Victoria gehört hätte, sähe es heute in Darmstadt etwas anders aus....
DARMSTADT. Wenn die in Darmstadt geborene Prinzessin Victoria Alix Helena Louise Beatrix auf ihre Großmutter Queen Victoria gehört hätte, sähe es heute in Darmstadt etwas anders aus. Es gäbe die Russische Kapelle nicht, und auch das Darmstädter Schlossmuseum wäre um manche Preziose ärmer. Mit gutem Grund hatte die englische Königin ihrer verliebten Enkelin von einer Ehe mit dem russischen Thronfolger abgeraten: „Der russische Staat ist so schlecht, so verdorben, dass jeden Moment etwas Schreckliches passieren könnte“. Sie sollte, wenn auch viele Jahre später, Recht behalten.
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Während Alix (1872–1918) in Darmstadt fast vergessen ist, wird sie in Russland seit dem Jahr 2000 als Neuheilige und Leidensdulderin verehrt, und die russisch-orthodoxen Kirchen sind mit Ikonen von ihr und ihren Familienmitgliedern geschmückt. Auch in der Russischen Kapelle auf der Mathildenhöhe ist sie als Heilige dargestellt.
In Russland kennt man Alix als Alexandra Fjodorowna, diesen Namen hatte sie nach dem Übertritt vom protestantischen zum russisch-orthodoxen Glauben angenommen. Sie, die letzte Zarin, wurde vor 100 Jahren, in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918, zusammen mit ihren Familienmitgliedern in Jekaterinburg im Ural von Bolschewiki erschossen. Am heutigen Tag werden beim Jekaterinburger Gedenkfestival „Zarentage“ über 100 000 Besucher erwartet. An jenem Ort, wo die Zarenfamilie ermordet wurde, erheben sich nun die goldenen Kuppeln der „Kirche-auf-dem-Blut“.
In Darmstadt erinnert der Alexandraweg an Alix, diese schöne, ernste, großherzige, tief religiöse Frau, deren tragisches Schicksal dem von Marie Antoinette ähnelt. Beide waren den Luxus von Palästen gewohnt, glaubten ans Gottesgnadentum, ignorierten die Not des Volkes und starben als Gefangene von Revolutionären.
Alix ist die Schwester von Großherzog Ernst Ludwig, dem Darmstadt die Mathildenhöhe verdankt. Sie kam am 6. Juni 1872 im Neuen Palais zur Welt, das sich auf dem Gelände der heutigen Georg-Büchner-Anlage vor dem Staatstheater befand. Ihre Mutter, die Großherzogin Alice, eine Tochter von Queen Victoria, hatte ihren Namen bewusst ausgesucht: „Alix gaben wir ihr statt Alice, weil man hier meinen Namen umbringt. Man spricht ihn Aliicé aus, und deshalb dachten wir, Alix könnte nicht so leicht verketzert werden“.
Als ihre geliebte Mutter (nach der das Alice-Hospital benannt ist) an Diphterie starb, endete eine „wolkenlose glückliche Kindheit“. Alix, von der Familie „Sunny“ genannt, war bei ihrem Tod erst sechs Jahre alt. Großmutter Victoria übernahm die – englisch geprägte – Erziehung der Kinder ihrer Tochter. Im Alter von zwölf Jahren reiste Alix zum ersten Mal nach Russland und lernte dort ihren späteren Mann kennen. Dem damals Sechzehnjährigen hat sie bei dieser ersten Begegnung bereits „schrecklich gefallen“. Anlass der Reise war die Heirat ihrer älteren Schwester Ella mit dem Großfürsten Sergej in St. Petersburg.
Im Alter von 25 Jahren tritt Nikolaus Thronfolge an
Vier Jahre später begegneten sich Alix und Großfürst Nikolaus erneut, und der russische Thronfolger verlobte sich mit der Darmstädter Prinzessin. Er freute sich, dass sie schon zwei Tage später zwei Sätze auf Russisch „ohne Fehler“ schreiben konnte. Für den Russischunterricht wurde die Russisch-Lehrerin ihrer Schwester Ella engagiert. Unerwartet starb Zar Alexander III. während der Hochzeitsvorbereitungen, was als böses Omen gewertet wurde. Im Alter von 25 Jahren musste Nikolaus, der nie Zar werden wollte, die Thronfolge antreten. Am Tag nach seiner Krönung in Moskau kam es während eines Volksfestes, bei dem Krönungsbecher und Lebensmittel verschenkt wurden, zu einer Massenpanik mit hunderten von Toten und Tausenden von Verletzten. Das war das zweite böse Omen. Der Zar ging nach der Tragödie abends zum Ball, die Zarin soll einen „sehr bekümmerten Eindruck“ gemacht haben.
Anders als ihrer älteren Schwester Ella gelang es Alix nicht, die Sympathie ihres Volkes zu gewinnen. „Ihr Leben in Russland war schwer von Anfang an“, notierte ihr Bruder Großherzog Ernst Ludwig. Das Zarenpaar besuchte häufig die Verwandten in Darmstadt, hielt sich in Schloss Wolfsgarten bei Langen auf oder kurte in Bad Nauheim. Zar Nikolaus ließ mit privatem Geld in Darmstadt die Russische Kapelle errichten, die auf russisch geweihter Erde steht. Es gibt keine Belege dafür, dass sie – wie oft behauptet – aus Russland herbeigekarrt worden ist.
Nach vier Töchtern hatte die Zarin ihrem Mann, den sie Nicky nannte, endlich den ersehnten Thronfolger, Zarewitsch Alexej (1904), geboren. Dem russischen Volk wurde verschwiegen, dass er an Hämophilie (Bluterkrankheit) litt. Es bekam nur mit, dass die tief gläubige Alexandra dem als Wunderheiler gepriesenen, doch umstrittenen Mönch Rasputin fast hörig wurde, weil er den Zustand des Jungen durch Gebete zeitweise verbessern konnte. Sie schrieb ihm: „Sie sind unser ein und alles.“
Als Herrscher weich und unentschlossen
Privat war Nikolaus II. ein Gentleman, als Herrscher aber weich und oft unentschlossen. Die Zeichen der Zeit erkannte er ebenso wenig wie Alexandra. Der Zar musste im März 1917 abdanken und wurde zusammen mit seinen Familienmitgliedern und Bediensteten gefangen gehalten. Lenin beschloss, ihn, den „Unsicherheitsfaktor“, auszuschalten.
Am 16. Juli 1918 notierte die arglose Alexandra: „Mit Nicky Karten gespielt. 10.30 Uhr zu Bett. 15 Grad.“ Der darauf folgende Tag sollte ihr letzter werden. Als erste wurden der Zar und die Zarin erschossen, dann kamen die Kinder an die Reihe. Einen Tag später ermordeten die Bolschewiki ihre Schwester Ella, die Großfürstin Jelisaweta Fjodorowna, Oberin des von ihr gegründeten Martha-und-Maria Klosters der Barmherzigkeit. Auch sie wird jetzt in Russland als Neuheilige in den Himmel gehoben.