Serie Genossenschaften: Wohnsinn und die Wir-Agentur
Die Genossenschaft „Wohnsinn“ gestaltet in Kranichstein ein gemeinschaftliches Wohnprojekt – und findet bis heute Nachahmer.
Von Karin Walz
Willi Wagner und Conny Müller gehören zu den ersten Bewohnern des 2003 bezogenen gemeinschaftlichen Wohnprojekts „Wohnsinn“ in Kranichstein.
(Foto: Torsten Boor)
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
DARMSTADT - Am Anfang stand der Wunsch nach gemeinschaftlichem Wohnen von Jung und Alt. Das war 1991. Mehr als zehn Jahre sollte es dann dauern bis aus dem Traum Realität wurde: 2003 war das Haus der Bau- und Wohngenossenschaft „Wohnsinn“ im Kranichsteiner Neubaugebiet K6 bezugsfertig. Rund 80 Bewohner zogen ein. Conny Müller und Willi Wagner gehörten mit dazu.
Heute sind beide stolz darauf, dass sie den mitunter langwierigen und zeitraubenden Entstehungsprozess des Wohnprojekts mitgestaltet haben. Und mehr noch: Mit „Wohnsinn II“ konnte wenige Jahre später ein zweites Bauprojekt unter dem genossenschaftlichen Dach realisiert werden. Außerdem hat der Einsatz für das gemeinschaftliche Wohnen zahlreichen Nachfolgeprojekten Mut gemacht.
„Als wir anfingen, konnte uns ja keiner sagen, wie sich gemeinschaftliches Bauen am besten realisieren lässt“, erinnert sich Conny Müller. Die „Altgenossenschaften“ in Darmstadt konzentrierten sich auf den Erhalt ihres Immobilienbestandes, hatten mit Neubauten keine Erfahrung mehr. „Außerdem“, so betont Willi Wagner, „wollten wir ja mehr als nur preisgünstigen Wohnraum schaffen“. Neben unterschiedlichen Generationen sollte die Hausgemeinschaft Menschen mit und ohne Behinderung, niedrigen und höheren Einkommen, Singles und Familien eine neue Heimat bieten. Der Bau sollte nach ökologischen, das Zusammenleben nach den Prinzipien der Selbstverwaltung durchgeführt werden. Mit gemeinschaftlich genutzten Flächen wie Versammlungsraum, Werkstatt, Dachterrasse, Innenhof und Gästezimmern sollte das Haus wie „ein kleines Dorf“ funktionieren. Vorbilder dafür gab es damals in Darmstadt keine. Um die selbst gesteckten Ziele zu realisieren, musste daher zunächst Vertrauen aufgebaut werden, hebt Conny Müller hervor. Vertrauen gegenüber potenziellen Mitstreitern, privaten und institutionellen Geldgebern und den beteiligten Baufirmen: „In der Zeit war es ein Glück für uns, dass wir auf die professionelle Bauberatung des Planungsbüros Faktor 10 zurückgreifen konnten.“
DIE „WIR-AGENTUR“
Ausgehend vom Verein „Gemeinsam Wohnen Jung und Alt“, der Keimzelle der Baugenossenschaft „Wohnsinn“, wurde die „Wir-Agentur“ ins Leben gerufen, die vier bis fünf Mal jährlich zum Runden Tisch einlädt. Dann werden Fördermöglichkeiten für Wohn- und Nachbarschaftsprojekte besprochen, Kontakte vermittelt und Erfahrungen ausgetauscht.
Alle zwei Jahre organisiert die „Wir-Agentur“ den Darmstädter Wohnprojektetag, bei dem sich bereits fertiggestellte oder im Werden begriffene Wohngruppen öffentlich vorstellen. Außerdem hält die Agentur Kontakt zu Politik und Verwaltung.
Dabei ist die Einrichtung einer kommunalen Kontakt- und Beratungsstelle als Anlaufstelle für Baugruppen die zentrale, bisher allerdings unerfüllte Forderung der „Wir-Agentur“. (kaw)
Die serie
Das Ziel, durch gemeinschaftliches Handeln die wirtschaftliche und soziale Lage der eigenen Mitglieder zu verbessern, steht hinter der Genossenschaftsidee, die seit 2016 zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit zählt. Vor allem im Wohnungsbau hat die im 19. Jahrhundert entstandene moderne Genossenschaftsbewegung in den letzten Jahren neuen Schwung erhalten. Das ECHO stellt deshalb die Geschichte und aktuelle Situation Darmstädter Genossenschaften in unterschiedlichen Branchen in einer Serie vor. (kaw)
Als Rechtsform wählte man schließlich die Genossenschaft: „Selbstverwaltung und unser Ziel eines gleichberechtigten Zusammenlebens konnten wir so am besten unter einen Hut bringen“, sagt Willi Wagner, „jeder Genosse hat eine Stimme – unabhängig von seinem sozialen Hintergrund.“ Als hilfreich erwies sich, dass das Baugrundstück von der Stadt in Erbbaurecht zur Verfügung gestellt wurde. „So brauchten wir weniger Eigenkapital“, resümiert Conny Müller und verweist zugleich auf den ehrenamtlichen Einsatz, der für die Realisierung des Wohnprojekts notwendig war: „Das war schon ein wahnwitziger Aufwand. Man war eigentlich ständig mit Problemlösung beschäftigt.“
Für sie und Willi Wagner ist es daher nur folgerichtig, dass nach der Fertigstellung von „Wohnsinn I“, die gemachten Erfahrungen in das Erweiterungsprojekt „Wohnsinn II“ einfließen konnten. Die Schenkel des in U-Form errichteten Gebäudes wurden dabei mit je einem Gebäuderiegel verlängert. Seit 2008 stehen so insgesamt 74 Wohnungen zur Verfügung. In beide Bauabschnitte wurden Sozialmietwohnungen integriert. „Beim zweiten Projekt ging dann schon alles wesentlich schneller“, freut sich Conny Müller.
Und es geht weiter: „Wohnsinn-Bessungen“ steht in den Startlöchern. In der Lincoln-Siedlung sollen so mehr als 40 weitere Genossenschaftswohnungen entstehen. Auf dem Cambrai-Fritsch-Gelände will der ebenfalls in der Genossenschaft angesiedelte „Wohntraum“ in ähnlicher Größenordnung bauen.
Dass sie mit ihrem genossenschaftlichen Ansatz den richtigen Weg eingeschlagen haben, sieht Conny Müller auch beim Blick auf die bei den realisierten Projekten anfallenden Mieten bestätigt: „Bei den geförderten Sozialwohnungen liegen wir bei fünf bis sechs Euro pro Quadratmeter. Bei den frei finanzierten Wohnungen sind es um die acht Euro.“ Da die Genossenschaft Eigentümerin der Gebäude sei, seien diese der Marktdynamik entzogen. „Und da die Genossen gleichzeitig Mieter sind, haben wir ja ein Interesse daran, die Mieten in Grenzen zu halten.“ Bei den neuen Projekten, so räumt sie ein, lägen die Mieten dagegen etwas höher: „Da schlagen die gestiegenen Preise für Grundstücke und Bauleistungen zu Buche.“
Vom Erfahrungsschatz beim gemeinschaftlichen, sozialen und ökologischen Bauen profitieren aber nicht nur die in der eigenen Genossenschaft angesiedelten Bauprojekte. „Nachdem Wohnsinn I fertig gestellt war, haben sich viele bei uns gemeldet, die ähnliche Pläne realisieren wollten“, erzählt Willi Wagner. „Um den Wissenstransfer zu forcieren und Kontakte zu vermitteln haben wir deshalb die „Wir-Agentur“ gegründet“, berichtet er und weist darauf hin, dass man mit der Namensgebung einen bewussten Kontrapunkt zur „Ich-AG“ gesetzt habe. Mittlerweile sind so weitere gemeinschaftliche Wohnprojekte in Darmstadt entstanden: In unmittelbarer Nachbarschaft zu „Wohnsinn I“ entstand in Zusammenarbeit mit der Bauverein AG „Wohnart 3“.
Am Ostbahnhof konnten im letzten Jahr die Mitglieder der Baugenossenschaft „Agora“ in vier Gebäude mit insgesamt 50 Wohneinheiten einziehen. In Bessungen erstellte die Baugenossenschaft „K76“ ein Gebäude mit 15 Wohnungen. Agora und „K76“ wurden jüngst mit dem „Hessischen Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau“ ausgezeichnet.
In allen Projekten stärken gemeinschaftlich genutzte Räume den sozialen Austausch. „Agora“ betreibt zudem ein eigenes Café-Restaurant, in den Seminarräumen finden Kulturveranstaltungen statt. Auf Lincoln bauen außerdem die Gemeinschaftsprojekte „HeinerSyndikat“ und „Zusammenhaus Lincoln“ – beide sind nicht als Genossenschaft organisiert, haben sich mit dem Dachverband „Mietshäuser Syndikat“ bzw. der Bauverein AG starke Partner gesucht. „Für alle standen und stehen wir mit Rat und Tat zur Seite“, bekräftigt Willi Wagner, „aber schlussendlich müssen alle Projekte irgendwann ihren eigenen Weg gehen.“