Schulverweigerer: Die Eltern kommen oft zu spät

In der Therapie setzen sich die Kinder mit den Ängsten auseinander, die dazu führen, dass sie die Schule meiden.Foto: dpa  Foto: dpa

Bauchweh, Herzrasen, Schweißausbrüche: Es beginnt mit einfachen Symptomen, wenn Kinder seelisch so krank werden, dass sie nicht mehr in die Schule gehen können. Lehrer und...

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DARMSTADT. Bauchweh, Herzrasen, Schweißausbrüche: Es beginnt mit einfachen Symptomen, wenn Kinder seelisch so krank werden, dass sie nicht mehr in die Schule gehen können. Lehrer und Eltern können sich in der Region aber rasch Hilfe holen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Vitos-Klinik Hofheim in Riedstadt bietet unter anderem eine Sprechstunde zu diesem Problem an sowie viele ambulante Hilfen. Dr. Daniel Sammet arbeitet dort als Oberarzt mit Kindern und Jugendlichen. Am Mittwoch, 20. September, spricht er in Darmstadt anlässlich der „Tage der seelischen Gesundheit“ in der Viktoriaschule zum Thema.

In der Therapie setzen sich die Kinder mit den Ängsten auseinander, die dazu führen, dass sie die Schule meiden.Foto: dpa  Foto: dpa
Daniel Sammet ist Oberarzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Riedstadt.Foto:  Vitos-Klinik  Foto:  Vitos-Klinik

Schule schwänzen kommt ja immer mal wieder vor. Wo ist die Grenze zum seelisch kranken Schulverweigerer, den Sie und Ihre Kollegen behandeln?

Auch das klassische Schulschwänzen kann zu ernsthaften Problemen führen. Da sind aber eher das Jugendamt und die Jugendhilfe gefragt. Wir als Kinder- und Jugendpsychiater behandeln dagegen Fälle von Schulphobie und Schulangst. Der erste ist beeinflusst von Faktoren, die nichts direkt mit der Schule zu tun haben, sondern mit Erlebnissen wie einer Trennung im Elternhaus, das ist relativ häufig. Das Kind oder der Jugendliche schafft es dann einfach nicht, hinaus zu gehen, manchmal auch verbunden mit einer Depression. Anders liegt der Fall, wenn ein Kind schon Schweißausbrüche bekommt, wenn es an die bevorstehende Klassenarbeit denkt. Da gibt es die Angst beispielsweise vor Leistungsversagen. Auch Mobbing-Erfahrungen können das auslösen.

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Erstmal tauchen Allerwelts-Symptome auf. Ab wann wird es kritisch?

Richtig, zunächst tauchen die Eltern mit dem Kind beim Hausarzt auf, oft wegen Kopf- oder Bauchschmerzen. Da muss man genau hinhören. Wenn sich keine körperlichen Ursachen finden lassen und das Kind schon seit Wochen nicht mehr zur Schule geht, sollte die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingeschaltet werden. Wir machen niedrigschwellige Angebote wie eine Sprechstunde, zu der man sich auch kurzfristig anmelden kann. Oft kommen die Eltern zu spät, wenn der Schüler schon Monate aus der Schule draußen ist. Auch ein, zwei Wochen sind für uns schon ein Alarmsignal, das ernst zu nehmen ist.

In welchem Alter tauchen diese Phobien und Ängste verstärkt auf?

Das beginnt gehäuft in den Klassen fünf und sechs, die Spitze ist dann in der sieben und acht, danach nimmt es ab. Aber die Zahlen sind nicht sehr valide. Das wird an den Schulen nicht systematisch erfasst. Wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Aber es gibt schon in der Grundschule erste Anzeichen, wo schon ein Druck entsteht, es noch eine Weile irgendwie funktioniert. Da zeigen sich aber schon die ersten Symptome.

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Wodurch kann die Schule einem Kind derart Angst machen, dass es krank wird?

Das ist der kleinere Teil unserer Patienten. Die erzählen uns beispielsweise, sie wollen nicht mehr zur Schule gehen, weil die Klassenkameraden sie immer wieder ärgern. Oder weil der Lehrer so böse ist, oder weil die Klassenarbeiten zu schwer sind. Dann tauchen die klassischen Angstsymptome auf wie Herzrasen, Schwitzen, Nervosität, Unruhegefühl. Die Kinder meiden dann diese Situationen und gehen diesen aus dem Weg.

Welche Rolle spielt das Gefühl von Überforderung?

Auch das gibt es, wenn das Kind die geforderte Leistung nicht erfüllen kann. Das kann an der Grund-Intelligenz liegen, aber auch daran, dass es belastende Lebenssituationen gibt. Kinder werden in der Schule von Gruppen ausgeschlossen, gehen dann in eine Außenseiter-Position, finden kaum Anschluss. Mobbing ist ein Ausdruck, der dann sehr schnell aufkommt. Aber man muss genau schauen, was passiert ist.

Nehmen diese Symptome zu? Von Kindern, die unter Schulstress leiden, wird ja oft geredet.

Es fällt mir schwer, das zu bestätigen. Ich würde das als einen gleichbleibend hohen Druck beschreiben.

Was können die Familien tun?

In allen Fällen ist es wichtig, dass das Kind möglichst schnell wieder in den Alltag zurückfindet. Je länger sie aus der Schule draußen sind, desto höher die Gefahr, dass sich die Symptome verschärfen. Das ist bei allen Angst-Diagnosen so.

Wer kann dabei noch helfen außer den Ärzten?

Die Helfer-Systeme müssen aktiviert werden. Schulsozialarbeiter, Schulpsychologen, auch das Jugendamt kann helfen. Wir bieten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Riedstadt verschiedene Module an, in denen die Ängste in dieser Zeit behandelt und reduziert werden. Dazu gehört zum Beispiel unsere wöchentliche Schulabsentismus-Gruppe.

Wer sitzt da zusammen?

Da sind Patienten zwischen zwölf und 18 Jahren drin, begleitet von zwei unserer Therapeuten. Zehn bis zwölf Jugendliche sind im Moment dabei. Da können die Jüngeren beispielsweise erfahren: Da ist jemand, der hatte eine ähnliche Problematik wie ich, und der hat es gepackt. Für Jüngere gibt es auch Angebote, da läuft es über psychisch funktionelle Arbeit. Ein Ergotherapeut hilft ihnen dabei, dass die Kinder wieder ins Handeln kommen, einen Rhythmus finden. So finden sie langsam wieder in den Alltag hinein, Schritt für Schritt.

Wie stark kommen Eltern und Kinder zusätzlich unter Druck durch die Schulpflicht?

Das hören wir häufig. Eltern beschreiben: Jetzt macht uns auch noch die Schule Druck oder sogar das Jugendamt. Aber so ist das System nun mal aufgebaut. Wir sehen es dabei als unsere Pflicht an, so zu behandeln, dass das Kind so bald wie möglich wieder in die Schule gehen kann. Aber niemand wird ins kalte Wasser geworfen. Wer so krank ist, dass er über Wochen stationär bei uns bleiben muss, der bekommt bei uns Unterricht. Dafür haben wir eine eigene Schule auf dem Gelände der Klinik.

Das Interview führte Thomas Wolff.