„Wer recht in Freuden wandern will, der geh’ der Sonn’ entgegen.“ Für den Dichter Emanuel Geibel war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch klar, was das...
DARMSTADT. „Wer recht in Freuden wandern will, der geh’ der Sonn’ entgegen.“ Für den Dichter Emanuel Geibel war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch klar, was das heißt: Wandern. Dieses und andere Zitate standen auf Zetteln, die Schüler den zahlreichen Gästen am Donnerstagabend zu Beginn des Schüler-Theaterfestivals in die Hand drückten. Wenig später erleben die Besucher dann folgende Szene: Bewaffnet mit einem Megafon zieht ein Frontmann, das Lied „Das Wandern ist des Müllers Lust“ lauthals grölend, durch die Halle. Seine „Gefolgschaft“ hat überwiegend ein Handy am Ohr. Bis der führende Wandergeselle ins Megafon ruft, dass man doch diesen oder jenen Höhepunkt betrachten solle. Da schrecken alle auf, richten blitzschnell ihre Geräte auf den benannten Punkt und schießen eifrig Fotos.
So etwas hätte sich Emanuel Geibel im Traum nicht vorgestellt. Um 1870 wurden in den Schlachthöfen von Cincinnati erstmals Transportbänder eingesetzt, um geschlachtete Schweine von einem Arbeiter zum nächsten zu transportieren. Die Mechanisierung der Arbeit ließ den technischen Fortschritt in dieser modernen Form aber nicht einmal erahnen.
In Einheitsbewegungen von Hand zu Hand
Entfremdung der Arbeit und Gleichschaltung im Orwellschen Sinne – das stellte eine andere Schülergruppe vor: Leere Flaschen wanderten wie auf einem Fließband in Einheitsbewegungen von Hand zu Hand in einer langen Reihe. Das Gewusel fleißiger Insekten spielten die jüngsten Schüler mit viel Begeisterung. Rhythmik koordinierte die Bewegungen, auch hier lief alles im Takt.
Schüler verschiedenen Alters und aus unterschiedlichen Schulformen waren zusammengekommen, um die ersten sechs Jahre „Tusch“ zu feiern. Eine Klasse von der Förderschule Ernst-Elias-Niebergall trat neben den Schülern der gymnasialen Oberstufen-Schule Bertold Brecht auf, die Lernenden der Alice-Eleonoren-Schule kamen mit Schülern der Wichernschule, einer Schule mit sonderpädagogischem Förderbedarf, in einem gemeinsamen Projekt zusammen. „Inklusion ist hier ein zentrales Thema“, betont Nadja Soukup, die „Tusch“ in Darmstadt koordiniert und sich, wenigstens für diesen Abend, die „Inklusion des Herzens“ wünschte.
Die große Boulderhalle in der Landwehrstraße bot Platz genug für die vielen theatralischen Einlagen der Gruppen, während rundherum weiter geklettert wurde. Die Akustik ließ zu wünschen übrig, man konnte bei Weitem nicht immer verstehen, worum es in den szenischen Vorführungen ging.
„Darmstadt unterwandern – das ist ein offenes Thema für alle“, sagte Soukup, das reicht vom Durchlaufen der Stadt bis zum übertragenen „unterwandern“. So sind wohl die Mechanisierungs-Szenen zu verstehen: als Kritik am Bestehenden, der Gleichschaltung und Technisierung der Gesellschaft – die es zu unterwandern gilt? Eine Hexenverbrennungsszene aus dem mittelalterlichen Darmstadt zeigte eine Klasse der Stadtteilschule Arheilgen, geschichtlich belegt aus dem Jahr 1558. Bei einer Traumszene von Obdachlosen (Bernhard-Adelungen-Schule) mit Bräuten und Tiergestalten regnete es Klopapier und Geldscheine, die ein städtischer Angestellter als Müll schließlich beseitigen lässt.
Viel roter Faden war am Festivalabend kaum auszumachen, vielleicht ist aber das Nebeneinander der Szenen als eine lustvolle anarchische Unterwanderung der Ordnung ganz allgemein zu verstehen, als bunte Vielfalt und vor allem als Miteinander, das vielen der jungen Schauspieler offensichtlich Spaß gemacht hat. Von der Theaterseite mit dabei: das Theater Lakritz, das Theaterlabor INC, der Verein Theatermacher, das Theater Transit, das Staatstheater Darmstadt und das Theater 3D.