Psychotherapie: Auch Kinder müssen lange warten

Auf dem Smartphone sind Spiele und soziale Medien allzeit verfügbar - auch für Jugendliche.

Viele Jugendtherapeuten in Darmstadt und dem Landkreis haben Aufnahmestopps verhängt. Ein großes Problem. Wie Eltern bei dringendem Bedarf ihre Chancen auf einen Termin erhöhen.

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Darmstadt. „Ich habe fast jeden Tag Eltern am Telefon, denen ich absagen muss“, sagt Iris Soppa-Fischer. In ihre psychotherapeutische Praxis in Darmstadt können junge Menschen bis zum 21. Lebensjahr kommen, wenn sie Hilfe brauchen. Doch die Warteliste ist lang. Die Therapeutin erzählt von verzweifelten Müttern, die sich um ihre Kinder sorgen: Weil sie sich weigern, zur Schule zu gehen oder weil sie an Essstörungen leiden, Ängste haben oder Depressionen. Nun sind lange Wartezeiten in diesem Sektor nicht neu. „Das war auch schon vor Corona so“, sagt Soppa-Fischer. Doch jetzt reiche es. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus dem Darmstädter Qualitätszirkel „Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie“ will sie nicht länger tatenlos zusehen, sondern den Engpass öffentlich machen.

Es gibt Kinder, die morgens erstmal zwei Stunden auf ihr Handy schauen, das geht dann auf Kosten der Konzentration in der Schule

IS
Iris Soppa-Fischer Psychotherapeutin

Die Therapeuten, die teils in Praxen arbeiten oder in der psychosomatischen Abteilung der Darmstädter Kinderkliniken, beobachten eine steigende Nachfrage nach Therapien. Die Kinder und Jugendlichen litten vermehrt unter Essstörungen, Depressionen und Angststörungen, heißt es in einem gemeinsamen Schreiben. Zugenommen habe auch der Medienkonsum. „Es gibt Kinder, die morgens erstmal zwei Stunden auf ihr Handy schauen, das geht dann auf Kosten der Konzentration in der Schule“, sagt Iris Soppa-Fischer. Sie kenne Familien, wo die Kinder wochenlang gar nicht mehr in die Schule gingen. „Je länger die Kinder keine Hilfe bekommen, desto schwerer ist dann die Wiedereingliederung.“ Die Chance, durch schnelle Hilfe einen chronischen Verlauf zu verhindern, werde so verpasst.

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Leere Wartezimmer sind für Fachärzte ein ungewohntes Bild. Während der Corona-Krise häufen sich diese Anbilcke. Doch Patienten sollten auch weiterhin zum Arzt gehen.
Wer einen Termin über die Servicestelle der KV Hessen ausmacht, muss maximal vier Wochen warten. (© Archivfoto: dpa)

Die Gründe, warum vermehrt Kinder Hilfe brauchen, machen die Therapeuten an der Coronapandemie fest. „Auch wenn zum Glück die Schließung von Schulen und Freizeitangeboten der Vergangenheit angehört, wirken die Belastungen nach.“ Studien zeigten, dass Symptome wie Ängste und Depressionen derzeit um etwa zehn Prozent häufiger vorkämen, als vor der Pandemie. Rund die Hälfte der Kinder und Jugendlichen erlebe Schule und Lernen immer noch als anstrengender. Hinzu kämen weitere Probleme wie der Ukrainekrieg, Energieknappheit, Inflation, Klimakrise. Der Ethikrat habe die Not bereits erkannt. Er fordert bundesweit unter anderem mehr Angebote von Schulpsychologen und Jugendhilfe.

Viele Praxen in Darmstadt und dem Landkreis müssen Aufnahmestopps verhängen

Die Darmstädter Therapeuten stehen voll hinter diesen Forderungen. Sie sind auch aufgrund der oftmals komplexen Erkrankungen und Fallverläufe dafür, dass der finanzielle Etat für den Einsatz von Integrationshelfern aufgestockt wird. „Wir nehmen bei vielen Kindern und Jugendlichen, die in unsere Praxen kommen, einen hohen schulischen Druck wahr“, sagt Soppa-Fischer. Auch wenn es um Diagnostik, Beratung und Psychotherapie gehe, übersteige der aktuelle Bedarf bei weitem die Kapazitäten der Versorgungsstrukturen in Darmstadt und dem Darmstädter Umland. Immer wieder müssten in Praxen deshalb Aufnahmestopps verhängt werden. Im Sozialpsychiatrischen Zentrum (SPZ) der Kinderkliniken lägen die Wartezeiten bei bis zu einem Jahr und mehr.

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Auf diese Defizite will der Qualitätszirkel aufmerksam machen. „Wir wollen das nicht stillschweigend ertragen“, sagt Soppa-Fischer. Es brauche konkrete Maßnahmen, etwa mehr Kassensitze für Psychotherapeuten. Bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hessen heißt es auf Nachfrage, dass der Therapiebedarf für Kinder und Jugendliche durch die Pandemie zugenommen habe. Die KV empfiehlt allen Eltern, die auf der Suche nach Psychotherapeuten für ihre Kinder sind, bei der Terminservicestelle (TSS) der KV nachzufragen. „Wir stellen fest, dass Patientinnen und Patienten, die dringend einen Termin benötigen, diesen auch zeitnah bekommen“, sagt KV-Sprecher Alexander Kowalski. Möglicherweise sei zu wenigen Menschen bekannt, dass über die Servicestelle auch Termine in kinder- und jugendpsychotherapeutischen Praxen vermittelt werden. „Das wäre zumindest eine Erklärung dafür, dass es auf der einen Seite Wartelisten und auf der anderen Seite freie Termine über die TSS gibt.“

Ein Schüler meldet sich, während die Lehrerin an die Tafel schreibt.
Viele Kinder stehen unter einem hohen schulischen Druck. (© Marijan Murat/dpa/Symbolbild)