Mit der Corona-Belastung wächst auch in Darmstadt die Gewalt

aus Coronavirus-Pandemie

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Je länger die Corona-Pandemie andauert, desto größer wird die Belastung in Gewaltbeziehungen und in Familien. Frühere Opfer haben zudem kaum Möglichkeiten, sich mit ihren Alltagsroutinen von dem Trauma abzulenken.     Foto: Fotolia

Beratungsstellen sind nach nunmehr zwei Pandemie-Jahren besorgt um die Opfer von Misshandlung und Missbrauch. Mehr und mehr Betroffene denken demnach an Suizid als letzten Ausweg.

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DARMSTADT. Als Corona die Gesellschaft vor zwei Jahren zum ersten Mal in den Lockdown zwang, befürchteten Beratungsstellen für Gewaltopfer das Schlimmste. Hinter geschlossenen Türen mussten die Täter nichts fürchten, die Opfer hatten keine Möglichkeiten, auf sich aufmerksam zu machen oder zufällig entdeckt zu werden. Die meisten Beratungsstellen vermerkten nach Lockdown-Ende jeweils steigende Zahlen.

Die aktuelle Zwischenbilanz nach zwei Corona-Jahren ergibt erneut ein recht einheitliches Bild für Darmstadt. Zwar stellt Polizeisprecherin Katrin Pipping fest, dass „bisher für den Bereich Südhessen und auch für Darmstadt nach derzeitigem Kenntnisstand keine erheblichen Abweichungen festgestellt werden konnten“. Allerdings erfasst die Polizei natürlich nur die Taten, die auch angezeigt wurden. Das Dunkelfeld ist entsprechend hoch.

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Sexualisierte Gewalt hat zugenommen

„Wir haben noch keine genauen Zahlen vom vergangenen Jahr und unser Eindruck ist, es hat sich nicht erhöht“, sagt Pro-Familia-Ärztin Katharina Rohmert. „Aber wir wissen nicht, ob das ein gutes Zeichen ist, oder ob die Leute nicht bei uns, sondern woanders landen.“ Für die Jahre 2019 und 2020 nennt Pro-Familia-Geschäftsführerin Ute Günther einen Anstieg von 170 auf 200 im Bereich Gewalt/Frauennotruf und im Bereich Täterarbeit von 419 auf 489 Einzelberatungen in Darmstadt und der Beratungsstelle in Groß-Umstadt. Bei den Zahlen für 2021 „sollten wir generell sehr vorsichtig mit der Interpretation sein“, sagt sie. Katharina Rohmert ergänzt, „wir wissen aus langjähriger Erfahrung, dass die Grenzen zwischen psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt fließend sind. Deshalb wissen wir nicht, ob wir dem Frieden so recht trauen können.“

Die Darmstädter Hilfe registriert „allgemein zu Gewalt genauso viele Anfragen wie im Jahr zuvor“, sagt Karin Bernet. „Was aber zugenommen hat, ist die sexualisierte Gewalt.“ Die Zahlen liegen derzeit nur bis Oktober vor – aber bis dahin waren es 2021 schon 129 Fälle. Im Vergleich zu 2020 (103) bereits 26 mehr. Zu den Opfern häuslicher Gewalt gehörten im vergangenen Jahr auch fünf Männer.

Ständige Belastung erhöht Gewaltpotenzial

Bei den Tätern könne die ständige Belastung das Gewaltpotenzial erhöhen, sagt Karin Bernet. Für die Opfer von Gewalterfahrung spitzt sich die Lage aber ebenfalls zu. Aufgrund der Corona-Lage können sie ihre täglichen Stabilisierungsroutinen nicht mehr wie gewohnt ausführen, sagt die Therapeutin. Der Gang ins Kino, das Fitnessstudio oder der Cafébesuch zur Ablenkung sind derzeit nur eingeschränkt möglich. Einsamkeit und die zunehmend gefühlte Ohnmacht angesichts der Pandemielage könnten die persönliche Krise verstärken. „Das haben wir vermehrt in allen Altersgruppen“, stellt Karin Bernet fest. „Und das Thema Suizidalität nimmt klar zu.“

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Eine Beobachtung, die Waltraud Heims von Wildwasser teilt. Sie macht einen Brennglaseffekt durch Corona aus. „Bei uns sind die Anfragen nach Beratung so hoch wie nie“, stellt sie für die Fachberatungsstelle für sexualisierte Gewalt fest. „Da ist eine große Not erkennbar.“ In der Gruppe der Opfer über 28 Jahre wurden 2019 bei Wildwasser 39 Fälle gezählt. 2021 waren es 65 Fälle – eine Zunahme von 66 Prozent.

Im Lockdown war die Gruppe der Elf- bis 14-Jährigen komplett weggebrochen. „2020 gab es 54 Beratungen und damit einen Rückgang um 50 Prozent“, sagt Waltraud Heims. „Die sind nun wieder bei uns angekommen, 2021 hatten wir 106 Beratungen.“ In dieser Altersgruppe geht es um Übergriffe zwischen Kindern oder auch zwischen Jugendlichen, wenn etwa der Freund mit dem Handy heimlich filmt und das Opfer später erpresst.

Isolation wirkt sich negativ auf Kinder aus

Der Kinderschutzbund zählte 2020 insgesamt 80 Fälle mit Gewalthintergrund, darunter elf Beratungen direkt mit Kindern, berichtet Angela Bucher. Zusätzlich zu diesen elf habe es zehn weitere kindertherapeutische Fälle zu anderen Belastungsfaktoren wie Corona gegeben. 2021 waren es deutlich mehr: 119 Fälle mit Gewalthintergrund, darunter 21 Kindertherapiemaßnahmen und zusätzlich 13 weitere mit anderen Belastungsfaktoren.

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„Besonders in Hochkonfliktfamilien, die bereits vor der Pandemie über wenig Ressourcen verfügten, wirkt sich die verstärkte Isolation negativ auf Kinder und deren Entwicklungschancen aus“, stellt Angela Bucher fest. In den Familien nehmen mit den Spannungen und Konflikten die psychischen Belastungen zu. Das führe bis hin zu Depressionen und Suizidalität. „Und dem kann aufgrund der knappen Therapieplätze auch schon vor der Pandemie und langen Wartezeit in den Kliniken nicht ausreichend begegnet werden“, sagt sie. Zur Stabilisierung und Überbrückung kommen die Kids zur kindertherapeutischen Beratung. „Daher kommt der Anstieg der Beratungen für Kids bei uns.“

Auch Präventionsangebote fallen weg

Alle vermissen schmerzlich die weggebrochenen Präventionsangebote, vom Präventionstheater in der Schule über sexualpädagogische Angebote für Jugendliche bis hin zur weiteren Verbreitung des Projekts „Luisa ist hier“, ein Codewort für Opfer ans Personal bei Übergriffen in Bars und Clubs.

Die Polizei empfiehlt das Codewort „Maske 19“, inzwischen international verbreitet für häusliche Gewalt, bei dem sofort die Polizei gerufen wird. Und den stillen Notruf: Im November wurde in den USA die Entführung einer Jugendlichen gestoppt, weil Passanten ihr Handzeichen richtig gedeutet hatten. Handfläche heben und nach vorn drehen, Daumen einklappen, Finger zur Faust ballen – das rettete der Sechzehnjährigen womöglich das Leben.

Anmerkung der Redaktion Wir haben uns entschieden, in der Regel nicht über Selbsttötungen zu berichten, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (http://www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.