Ein Besuch im beengten Schulalltag zwischen Schwimmbecken, Wickeltischen und Ruheräumen in Kistenform.
DARMSTADT. Nicole presst ihre Lippen zusammen, legt die Stirn angestrengt in Falten. Die 16-Jährige ist schwer genervt. Zahlen im Hunderterbereich soll sie addieren. Aber auf dem Übungsblatt, das vor ihr liegt, kommt sie nicht voran an diesem stickigen Vormittag. Sie hebt ihre Stimme, ruft ins Klassenzimmer: "Es ist einfach zu laut hier!" Ob sie nicht mit ihren Blättern raus in den Flur dürfe? "Dann kann ich mich besser konzentrieren!"
Ihr Lehrer Michael Walther lächelt verständnisvoll, schüttelt den Kopf. Laut wird es leider regelmäßig im Raum, in dem die fünf Jugendlichen Rechen-, Schreib- und viele andere Aufgaben lösen sollen. Wie in den meisten der 20 Klassenräume der Christoph-Graupner-Schule. Enge, Lärm und dicke Luft sind Alltag an der Schule, in der Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen gemeinsam rechnen, schreiben, lesen, schwimmen lernen, so weit es irgend geht. Das wird zunehmend schwieriger.
In der Förderschule am Bürgerpark drängen sich derzeit 144 Kinder und Jugendliche, fast doppelt so viele wie zur Gründungszeit in den späten Siebzigern. Für 75 war die Schule gebaut worden. Damals war die Schule ein Vorzeige-Objekt der Politik. Kein Kind sollte mehr daheim versteckt werden. Alle sollten die bestmögliche schulische Förderung bekommen. In der passenden Umgebung. Davon ist der Schulalltag heute weit entfernt. Trotz Inklusion an den Regelschulen: Die Förderschule wächst stetig weiter - in einem viel zu engen Korsett.
Zum Start des neuen Schuljahres sind gerade 15 Kinder eingeschult worden, vier Quereinsteiger kommen dazu, die aus der Inklusion an der Grundschule ausgestiegen sind. Unterm Strich macht das zwei komplette Klassen. Die Prognose: weiter steigend. Kinder mit Autismus werden per Bus hergebracht, Kinder mit Lähmungen, zunehmend Kinder mit schwersten Behinderungen. Alle unter einem Dach, viele in einem Raum. Nicht nur der 16-jährigen Schülerin Nicole platzt da mal der Kragen.
Auf der Schulbank neben Nicole hadert Simon mit seinem Blatt, brummelt, flucht. Direkt neben ihm hat eine Assistentin seine Mitschülerin Hannah aus ihrem Rollstuhl in ein Gestell gehievt, in dem sie stehend Aufgaben lösen kann. Hannah steckt bunte Holzklötze in die passenden Negativformen. An einem Tisch in der Küchenecke versucht der schwerbehinderte Deniz, per Knopfdruck ein Radio ein- und auszuschalten. Ein, aus, ein, aus - Simon fährt vom Tisch hoch, stürmt wortlos aus dem Zimmer. Fort in ruhigere Gefilde. Die zu finden ist nicht leicht an der Graupner-Schule.
In der Pause erklärt Schulleiterin Stefanie Wenzel in ihrem Büro, warum das so ist. Sie verweist auf eine Wand mit bunten Zetteln und Klebstreifen. "Das stellt all unsere Räume dar." Weil sie mehr Platz für die neuen Klassen braucht, fallen Fachräume weg, Jahr um Jahr. Auch der Zettel mit dem Musikraum wandert jetzt weiter; Musik machen die Schüler nun in einem Container auf dem Außengelände. In dem saßen zuletzt die Lehrer für Besprechungen zusammen. Der Besprechungsraum fällt weg. "Es ist jedes Jahr ein Dominospiel", sagt Wenzel. Besonders Ruheräume gebe es viel zu wenige, sagt sie. Letzte Zuflucht bieten "Little Rooms": selbst gebaute Kisten, in die sich die Schüler mal kurz reinlegen können, wenn sie sich abschotten wollen. "Autistische Kinder wie Simon leiden besonders darunter, wenn es lauter wird", sagt die Schulleiterin. Ausraster sind an der Tagesordnung.
Eine Viertelstunde nach seiner Flucht wird Simon von einem Pädagogen in einem Flur gefunden. Nicht nur die Enge nervte ihn. Ein Fernsehbeitrag über Donald Trump vom Vorabend habe ihn verstört. Darüber kann man reden. Krise gemeistert, für heute.
Nicole stinkt's. Zusammen mit zwei Kollegen vom Schülerrat macht sie nach dem Vormittagsunterricht ihrem Ärger Luft. Vor dem Hygieneraum im ersten Stock stauen sich schon wieder die Schüler, die gewickelt werden müssen, viele Rollstuhlfahrer darunter. Dann ist es auch noch in den Fluren "richtig voll", die eigentlich als luftige Freiflächen gedacht waren. Der Geruch dringt durch die halbe Etage. Nicole verzieht das Gesicht. Darüber wollen die drei Sprecher mal mit der Schulleitung reden.
Immer mehr Schüler werden im Wickelraum versorgt
Dass es auch beim Wickeln enger wird, bestätigt Wenzel den Schülern. Sie schaut nach: 61 Kinder und Jugendliche müssen inzwischen regelmäßig in den Hygieneräumen versorgt werden. Es werden eher mehr, sagt sie.
Kinder mit schwersten Behinderungen müssen die Erzieher, Sozialpädagogen und andere Fachkräfte - um die 100 Erwachsene insgesamt - nach deren Möglichkeiten fördern. Immer mehr Schüler "mit komplexen Syndromen" kommen hierher, sagt die Schulleiterin. Kinder mit Herz-Operationen. Mit Stoffwechsel-Störungen seit der Geburt. "Wir haben eine deutliche Zunahme an Schülern mit frühkindlichem Autismus und mit starken kognitiven Einschränkungen." Das hänge auch mit dem medizinischen Fortschritt zusammen.
"Wir haben einen deutlichen Anstieg an Frühgeburten ab der 23. Woche - Kinder, die früher nicht überlebt hätten." Die heutzutage zur Schule gehen sollen. Das fordert die Lehrer wie die Mitschüler.
Wenn morgens um halb neun die Kleinbusse vor der Schule anrollen, müssen die Begleiter immer mehr Hilfsgeräte mit ausladen. In den Schulfluren reihen sich Rollstühle, Walker und andere Transportvehikel aneinander, bis in die Klassenräume hinein. An Inklusion ist bei den meisten dieser Schüler nicht zu denken. Von ihren Eltern auch nicht gewünscht.
Mutter Anne Laubinger, 43, besucht die Schule an diesem Vormittag. Ihre zehnjährige Tochter Martha ist Autistin. Sie macht Fortschritte im Schreiben, sie hat im schuleigenen Schwimmbecken ihr "Seepferdchen" gemacht. "Hätte ich nie gedacht, dass sie das kann"; die Mutter strahlt. "Am Samstag motzt Martha, dass sie nicht in die Schule darf. Hier geschehen schon kleine Wunder."
Schulleiterin Wenzel hört zu. Dann erzählt sie von einem Mädchen, das früher oft weggelaufen ist, sogar angebunden wurde - "das gab böse Kommentare". Seit sie in der Graupner-Schule ist, "ist das nie wieder passiert."
Das wachsende Gedränge im alten Schulgebäude sieht auch Mutter Laubinger mit Sorge. Über den Elternbeirat versucht sie, Druck auf die Darmstädter Schulpolitiker zu machen. "Eine Gesellschaft, muss sich auch daran messen lassen, wie sie ihre schwächsten Glieder unterstützt." Schulleiterin Wenzel nickt. Seit Jahren sei der Raummangel bekannt. Ein Erweiterungsbau wurde immer wieder versprochen. Letzter Stand: Der Wettbewerb für die Architekten solle "im Sommer" vergeben werden. Das hatte das Immobilien-Management der Stadt noch im Juni versprochen.
Bis tatsächlich etwas passiert, muss die Schulleiterin weiter Domino spielen. Zuletzt sprach Wenzel vor den Ferien mit Baufachleuten der Kommune darüber, "wie wir einen Notbetrieb hinkriegen".
Immerhin: Zwei neue Lehrerstellen hat das Land gerade genehmigt. Das Staatliche Schulamt hat die gute Kunde vor einigen Tagen mitgeteilt. Irgendwann wird es auch wieder mehr Ruheräume geben, hoffen die Lehrer, Schüler und Eltern. Mutter Laubinger ist sich sicher: "Diese Schulen werden wir immer brauchen."