Sie setzen Maßstäbe: Die Mathildenhöhe (1) und das Staatstheater (3). Und auch der Prinz-Georg-Garten (5) war Autor Jürgen Tietz eine Oase der Freude. Doch wirkt so mancher Anblick in Darmstadt, als habe man in den 60er Jahren aufgehört, sich über die Qualität von Architektur Gedanken zu machen. Vielen gilt das Entrée Rheinstraße (4) und das Luisencenter (2) als Beispiel. Archivfotos: Hirtz/Schiek/Völker
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DARMSTADT - Gestaltungsbeiräte sind eine Beziehung auf Zeit. Mit der Stadt, von der man berufen wird, mit den Kollegen, mit denen man gemeinsam Projekte beurteilt, mit der Verwaltung, der Politik, den Architekten und Bauherren, denen man Ratschläge mit auf den Weg gibt. Daraus muss keine leidenschaftliche Affäre mit einer Stadt erwachsen, aber gewiss ein anderer Blick auf diese Stadt.
Ob ich in meiner kurzen Zeit im Gestaltungsbeirat etwas in und für die Stadt bewirken konnte, haben die Darmstädter zu entscheiden. Doch jenseits der Projekte, die uns zur Beurteilung vorgelegt waren, hat die Zeit mit Darmstadt für mich eine Wirkung entfaltet. Kaum etwas ist für mich so faszinierend, wie die erste Begegnung mit einem Ort. Man läuft staunend und ein wenig verwirrt durch die Straße, aber mit einer gespannten Aufmerksamkeit, weil alles neu ist und alles anders. So auch in Darmstadt. Was auffällt, sind die fehlende Altstadt und die bemerkenswerten Bauten der Jahrhundertwende (und bei Weitem nicht nur die Mathildenhöhe), die Fragmente der Mollerstadt und der Versuch, daran mit den Meisterbauten der Nachkriegszeit auf demselben baulichen Niveau anzuknüpfen.
Von der Terrasse des Theaters aus, das die von mir sehr verehrten Architekten Lederer Ragnarsdottir und Oei vor einigen Jahren so wunderbar umgebaut haben, wandert der Blick über das Zentrum der Stadt, überragt von Ludwigs Statue auf dem Luisenplatz. Ein historischer Anker in einer Stadt, die in der Brandnacht im September 1944 mehr verloren hat als einen Großteil ihrer historischen Bebauung mit der mittelalterlichen Altstadt. Wie seltsam verloren steht das Erinnerungsmal an diese Brandnacht am Eingang zum Marktplatz. Zum Schutz vor dem Verkehr ist es von Pollern umgeben, kein Ort zum Schauen, zum Verstehen oder gar zum Erinnern. Leicht zu übersehen, ist es eher eine Barriere im Stadtraum.
Sie setzen Maßstäbe: Die Mathildenhöhe (1) und das Staatstheater (3). Und auch der Prinz-Georg-Garten (5) war Autor Jürgen Tietz eine Oase der Freude. Doch wirkt so mancher Anblick in Darmstadt, als habe man in den 60er Jahren aufgehört, sich über die Qualität von Architektur Gedanken zu machen. Vielen gilt das Entrée Rheinstraße (4) und das Luisencenter (2) als Beispiel. Archivfotos: Hirtz/Schiek/Völker Foto:
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Orte von betörender Schönheit
Diese seltsame Lieblosigkeit zeigt sich an einigen Stellen der Innenstadt und hat mich bei manchen Stadtrundgängen geradezu schwermütig gemacht. Es scheint, als habe man in Darmstadt, das in Deutschland, ja, in der Welt Architekturgeschichte geschrieben hat, an einem Freitagnachmittag in den 1960er Jahren aufgehört, sich über die Qualität von Architektur und Stadträumen nähere Gedanken zu machen.
Dabei gibt es Orte in Darmstadt, die betörend schön sind. Der kleine Platz an der Stadtkirche mit der Zoo-Bar etwa, in deren Ambiente aus verwehten Fünfzigerjahren und zeitgemäßem Innenausbau ich gerne meine schnelle Mittagspause verbracht habe, oder die Oase des Prinz-Georg-Gartens, die den Gedanken Raum gibt und den Augen Freude. Doch es ist eben auch Darmstadt, wenn viel zu viele kleine Stadträume in der Innenstadt zugemüllt und verbaut sind, als Parkplätze unternutzt werden und so für die Darmstädter und das Leben verloren gehen.
GESTALTUNGSBEIRAT
2011 haben der Magistrat der Stadt Darmstadt und die Stadtverordneten die Einrichtung eines Gestaltungsbeirats beschlossen. „Ziel ist die Sicherung einer hohen städtebaulichen und architektonischen Qualität bei stadtbildprägenden Bauvorhaben“, wie die Stadt auf ihrer Internetseite definiert.
Die Beiratsmitglieder sollen die ihnen vorgestellten Projekte im Hinblick auf ihre städtebauliche, architektonische und gestalterische Qualität bewerten und deren Auswirkung auf das Stadt- und Landschaftsbild überprüfen. Durch die damit verbundene öffentliche Diskussion solle zudem „das Bewusstsein für Baukultur, Baukunst und Architektur gefördert werden“.
Der Gestaltungsbeirat ist ein Gremium von unabhängigen Sachverständigen. Mitglieder sind aktuell die Landschaftsarchitektin Rebekka Junge (Bochum), die Architektur-Professoren Thomas Knerer (Dresden) und Alexander Reichel (Darmstadt), die Architektin und Stadtplanerin Professor Christa Reicher (Dortmund) sowie die Architektin Susanne Wartzeck (Dipperz). (rea)
ZUR PERSON
Dr. Jürgen Tietz (Jahrgang 1964), studierte nach seiner Ausbildung zum Buchhändler in Berlin Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Ur- und Frühgeschichte.
Als freiberuflicher Publizist schreibt er zu den Themen Architektur, Denkmalpflege und Baukultur. Im Sommer erscheint sein neues Buch „Monument Europa“ im Verlag NZZ-Libro.
Bis Mai war er Mitglied des Darmstädter Gestaltungsbeirats, der nun wieder neu zusammengestellt ist. (red)
Zu selten findet man eine so kluge wie liebvolle Aufnahme des baulichen Erbes der Nachkriegsjahre wie im „Goldmarmor“ in der Wilhelminenstraße. Ohnehin die Wilhelminenstraße, die sich so furchtbar unter Wert verkauft.
Hätte ich Wünsche für die Stadt frei, ich würde mir wünschen, dass ein kluges Innenstadtkonzept entsteht, gemeinsam mit Anwohnern und Geschäftsleuten. Ein Konzept, das all das aufnimmt, was in Teilen ja schon vorhanden ist, mit den kleinen Cafés und Geschäften, ein Konzept, das die Phase qualitätvoller Architektur der Stadt aus der Nachkriegszeit wertschätzt und behutsam mit alten Schaufensteranlagen umgeht und der Höhenentwicklung der Häuser. Das verdichtet wird, wo zu niedrige Häuser stehen oder Baulücken noch immer auf ihre Erlösung warten. Denn es gilt: So wie sich die Stadt ihren Bürgern präsentiert, von der Qualität der Architektur bis zur Gestaltung des Fußbodenbelags, so gehen die Bürger mit ihrer Stadt um.
Darmstadt ist jung, dank der Universität, wächst kräftig und hat Potenziale, die in die Zukunft tragen. Darmstadt ist eine Stadt voller Chancen, doch an manchen Stellen verkauft es sich noch weit unter Wert und lässt Bauten und Stadträume zu, die nicht seiner Klasse entsprechen. Darmstadt, das habe ich in meiner Zeit im Gestaltungsbeirat der Stadt für mich erfahren, hat nicht nur eine großartige Vergangenheit, die sich in Teilen sogar auf dem Weg zum Welterbe bewegt. Von Darmstadt können Impulse ausgehen, die über die Grenzen der Stadt und über Hessen hinaus Wirkung entfalten.
Auf Augenhöhe mit Theater und Mathildenhöhe
Dazu bedarf es einer präzisen Analyse und eines städtebaulichen Entwicklungskonzepts, das gleichermaßen offenen wie verbindlich fortschreibbar ist, eine Art permanenter Bauausstellung, die den räumlichen Link zwischen Universität und Stadt, zwischen Kultur und Tourismus, zwischen Innenstadt und Peripherie schafft. Ein Konzept, das vor allem sicherstellt, bei jedem einzelnen Neubauprojekt über die einzelne Baustelle hinaus in räumlichen und funktionalen Vernetzungen zu denken und immer einen konkreten Mehrwert für die Stadt ausweist. Ein Konzept, das die Stadt als einen Organismus begreift. Eine Stadt, die nicht wie ihr großer Nachbar Frankfurt in einen peinlichen Retrorausch verfällt. Eine Stadt, die künftig nur noch solche Neubauten erlaubt, die sich auf dem Niveau von Alfred Messels Museum bewegen (dem ich einen gelungen Sonderausstellungsraum wünschen würde), die auf Augenhöhe mit der Mathildenhöhe, den Meisterbauten oder dem umgebauten Theater stehen.
Für die Darmstädter sollte ein solcher Anspruch selbstverständlich sein. Einst schrieb der Berliner Feuilletonist Franz Hessel: „Die minderen Qualitäten schaden meiner unsterblichen Seele.“ Darmstadts unsterbliche Architekturseele darf auf dem Weg der Mathildenhöhe zum Welterbe künftig keine minderen Qualitäten mehr zulassen.