Jeden Monat besuchen Behinderte und Nichtbehinderte in Darmstadt gemeinsam ein anderes Lokal
Von Petra Neumann-Prystai
Die „Stammzellen“, hier beim jüngsten Treffen im Lokal „Manni und Peet“, gibt es seit viereinhalb Jahren. Foto: Dirk Zengel
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DARMSTADT - Was steckt hinter dem Namen „inklusive Stamm-Zelle“? Ausgedacht haben ihn sich die Mitglieder eines mobilen Stammtischs, der vor viereinhalb Jahren von Behinderten und Nichtbehinderten gegründet wurde. Kurz vorm Auseinandergehen wird jeweils festgelegt, wo sich die Gruppe das nächste Mal trifft. Zugang und Toiletten der ausgewählten Lokale sollten möglichst behindertengerecht und die Preise nicht abgehoben sein. Denn die Teilnehmer gehören nicht zu den Besserverdienenden.
Kerstin Helfert – zierlich, warmherzlich, geduldig – leitet den Stammtisch. Sie schätzt, dass die inklusive Gruppe schon über 40 verschiedene Gaststätten kennengelernt hat. Vor vier Jahren sei die Bedienung im Umgang mit den Behinderten noch ziemlich unsicher gewesen. Nichtbehinderte wurden gesiezt, Behinderte geduzt – und das gehe gar nicht. Inzwischen habe sich einiges positiv verändert. „Da wird auch mal geholfen, wenn jemand mit dem Rollstuhl kommt“, sagt sie. Dass Behinderte das Recht haben, am normalen Alltagsleben teilzunehmen, sei jetzt stärker im Bewusstsein verankert.
Bei den ersten Lokalbesuchen hatten manche Behinderte mangels Erfahrung kein oder zu wenig Geld mitgenommen und konnten ihre Speisen und Getränke nicht bezahlen. Beim zweiten Mal glaubten manche, ihr Essen koste genauso viel wie beim letzten Treffen. Das alles seien Lernprozesse, erklärt Kerstin Helfert souverän. Dazu gehört auch, dass die Teilnehmer, von denen einige in stationären Einrichtungen wohnen, selbstständig zu den Treffpunkten kommen sollen – mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Taxi.
STECKBRIEF
Name: Die „inklusive Stamm-Zelle“, Gründung: 2012, Mitglieder: 10 bis 12 Behinderte und Nichtbehinderte. Neue Mitglieder sind willkommen. Treffen: einmal im Monat in wechselnden Lokalen.
Näheres im Internet unter www.zwischenraeume-da.de (pep)
An diesem Donnerstag probiert die Gruppe das neue Lokal „Manni und Peet“ in der Rheinstraße aus. An den hohen Geräuschpegel müssen sich die Stamm-Zeller erst gewöhnen, es ist schwierig, an dem langen Tisch ein Gespräch zu führen. Die anderen Gäste und das Personal sind nur kurz überrascht, gewöhnen sich aber schnell an die bunte Stammtisch-Mischung.
In der Runde gut aufgehoben
Zum Ritual der Stamm-Zeller gehört eine Vorstellungsrunde. Die meisten haben sich bei „ZwischenRäume“ in der Adelungstraße 53 kennengelernt, einer Einrichtung, die sich für Teilhabe in Freizeit, Bildung, Sport, Kunst und Kultur einsetzt und montags und donnerstags das „Café ZwischenRaum“ betreibt. Angelika nutzt die dort angebotenen Malkurse, sie hat den Tipp von der Selbsthilfegruppe Schädel-Hirn-Verletzte bekommen. Petra ist erst das zweite Mal in der Runde und fühlt sich gut aufgehoben: „Ich bin halt gerne unter Leuten.“ Der taubstumme Arne signalisiert mit seinen Händen, dass ihm das Stamm-Zelle-Konzept gefällt. Zwischen den Behinderten sitzen Annemarie, die Integrative Heilpädagogik studiert und die Einrichtung ZwischenRäume während ihres Praktikums kennengelernt hat, und Paula. Seit drei Wochen arbeitet sie dort als „Bufdi“ (Bundesfreiwilligendienst).
Christian, der ebenfalls Integrative Heilpädagogik studiert hat, erzählt, wie es zur Gründung der Stamm-Zelle kam. Es begann mit dem Projekt „Inklusives Martinsviertel“ im Jahr 2012. Bei einem Seminar wurden Behinderte über ihre Rechte aufgeklärt, und als der Lehrgang zu Ende ging, wünschten sich alle ein Wiedersehen. So entstand die Idee des mobilen Stammtischs, der für alle Beteiligten einen neuen Erfahrungsraum eröffnete. Dank dieses Angebots haben manche Behinderte ihre Schwellenangst verloren und trauen sich, allein in eine der Gaststätten zu gehen, die sie inzwischen kennengelernt haben. Das ist ganz im Sinne von ZwischenRäume und dem Anspruch, Türen zu öffnen, Lücken zu schließen und Brücken zu bauen.