„Was fällt Ihnen ein, wenn Sie das Datum 9. November hören?“: Schüler der Stadtteilschule Arheilgen befragen beim Weißen Turm Passanten.
(Foto: Andreas Kelm)
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DARMSTADT - Damit jeder zu jederzeit Zugriff „zum jüdischen Leben in Darmstadt damals und heute“ hat, entwickelten Schüler zusammen mit Informatikstudenten einen digitalen Stadtrundgang als App. Dieser dient „als Wissensspeicher“, womit man sich individuell auf Spurensuche zu Gedenkorten wie Jüdischem Museum, Synagogen, Stolpersteinen oder Biografien begeben kann. „Er ist für Euch gemacht“, wie ein Lichtenbergschüler am Freitag die zahlreichen Anwesenden im voll besetzten Hörsaal der TU-Maschinenhalle anspricht. Dort erinnern Schüler, Studenten und Lehrer mit unterschiedlichen Projekten an die Reichspogromnacht vor 80 Jahren.
Die grausamen Novemberpogrome – bezogen auf die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 auch Reichskristallnacht genannt – waren vom nationalistischen Regime organisierte Gewaltmaßnahmen gegen Juden im gesamten Deutschen Reich. Damals brannten allerorten die Synagogen und Geschäfte. Es ist der Tag, an dem Tausende Juden misshandelt, verhaftet und getötet wurden. Spätestens an diesem Tag konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren. Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte der Menschheit.
Intensiv haben sich die Schüler in das Thema eingearbeitet und dabei beeindruckende Erkenntnisse gewonnen und in Projekte umgesetzt: Es sind literarische Collagen, Vorträge, Musikstücke, Skulpturen, Denkmäler, Interviews und Videos zu sehen, zudem wird auf eine eigens von Schülern erarbeitete Ausstellung im Staatsarchiv neugierig gemacht. Initiiert und geplant wurde das interdisziplinäre Projekt von Dr. Bertram Noback, der sowohl an der Stadtteilschule Arheilgen wie auch an der TU Darmstadt lehrt.
„Das hat richtig weh getan“, gesteht der 16 Jahre alte Eleonorenschüler Ozan Kocaman ein und meint das Interview mit Zeitzeugin Edith Ebricht, die darüber berichtete, wie die Nazis mit Kindern umgingen. Sie hätten sie mit Süßigkeiten zu einem Waggon gelockt, worin dann aber anstelle von Kaugummis und Bonbons tote Menschen lagen. „Wie pervers ist das eigentlich?“, fragt Edith Ebricht und antwortet auf die Frage, ob sich solche Gräueltaten wiederholen könnten: „Ja, wenn Sie Augen und Ohren nicht offen halten.“ Immer gebe es Menschen, die meinten, sie müssten etwas anzetteln. Professor Dr. Helmut Castrizius meint hingegen: „Unsere Demokratie ist doch heute sehr stark.“
Die Schüler nehmen kein Blatt vor den Mund, und beweisen auf ihrer Suche nach der Wirklichkeit Offenheit für gegensätzliche Meinungen. Die Berichte von Edith Ebricht über ihre Kindheit gehen unter die Haut, etwa wie sie abends schon „die Kleider für den Hauptalarm zurechtlegen“ mussten, damit sie schnell in den Luftschutzkeller kamen. „In den öffentlichen Bunker durften wir ja nicht.“
Die Jugendlichen betonen, dass sie sich weiterhin für ein respektvolles Miteinander einsetzen werden, und wünschen sich wie Edith Ebricht: „Geht freundlich miteinander um, macht doch mal Frieden.“ Ozan Kocman ist am Ende der Veranstaltung zu Daniel Neumann gegangen, um dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Darmstadt für seine „tolle Rede“ zu danken. In diesem Sinn werden alle, wie sie sagen, an „dem wichtigen Thema“ dranbleiben. Sie haben unter anderem gelernt, was die Philosophin Edith Stein (1891–1942) bis zu ihrer Ermordung im Konzentrationslager Auschwitz durchgestanden hat, was in den Akten der Täter sowie in den damaligen Zeitungsberichten stand. Die Geschehnisse dürften nie vergessen werden, dafür setzten sie sich für eine Erinnerungskultur ein.