Als die Stadt Darmstadt Ende Juni den begehrten neuen Titel des Branchenverbands Bitkom einheimste, machte sie damit gleichzeitig Millioneninvestitionen klar. Nicht nur, dass...
DARMSTADT. Digitalstadt. Welch ein Titel. Einmalig in Deutschland. Erstmals für Darmstadt. Als die Wissenschaftsstadt Ende Juni den begehrten neuen Titel des Branchenverbands Bitkom einheimste, machte sie damit gleichzeitig Millioneninvestitionen klar. Nicht nur, dass das Land Hessen im Falle eines Sieges zehn Millionen Euro für das Leuchtturmprojekt zusagte. Auch stehen weitere Millionenbeträge von Unternehmen der Digitalbranche in Aussicht. Laut städtischer Pressestelle sind es mittlerweile mehr als drei Dutzend Unternehmen, die in digitale Projekte in Darmstadt investieren wollen.
Die Projektphase ist auf die Jahre 2018 und 2019 beschränkt. In diesem Zeitraum fließen die Investitionen aus der Wirtschaft. Obwohl es quasi jetzt gleich losgeht, steht die Stadt noch ziemlich am Anfang. Bis November hat es gedauert, Projektstrukturen in Form der Digitalstadt GmbH zu schaffen und diese Gesellschaft mit Mitteln aus dem städtischen Haushalt auszustatten. Zum 1. Januar ist eine kaufmännische Geschäftsführerin bestellt, welche die beiden "Teilzeit"-Geschäftsführer unterstützt: David da Torre, Geschäftsführer der Entega-Tochter Count & Care, und Joachim Fröhlich, IT-Leiter der Stadt Darmstadt. "In der Planung sind bis zu zehn Stellen", sagt Oberbürgermeister Jochen Partsch (Grüne).
Keineswegs steht bereits fest, welche Projekte im Rahmen der Digitalstadt konkret umgesetzt werden. "Das Projektportfolio ist noch nicht abschließend zusammengestellt. Es kommen täglich neue Ideen hinzu", sagt die Pressestelle der Stadt. Diese Sätze drücken Chance und Risiko in einem aus. Einerseits verbinden sich große Hoffnungen mit der Digitalstadt: Darmstadt soll Leuchtturm, ja bundesweiter Vorreiter als digitale Kommune werden. Andere Städte und Gemeinden sollen mal von Darmstadt lernen können. Unternehmen proben in der Jugendstilstadt ihre innovativen Referenzprojekte. Andererseits droht sich die Stadt zu verzetteln.
13 Themenbereiche beziehungsweise "Basisprojekte" sind definiert, wie Energie, Gesellschaft, Verwaltung, Gesundheit oder Bildung. Doch unter diesen Überschriften finden sich wiederum zahlreiche einzelne Projektideen, wie ein Unterstützerabend Mitte Dezember gezeigt hat. Die Projektideen werden immer mehr. In der letzten Sitzung des Stadtparlaments beantwortete der Oberbürgermeister zum Beispiel die Frage, was aus dem Beschluss geworden sei, ein Leerstandskataster für Baugrundstücke zu erstellen. Man prüfe, das im Rahmen der Digitalstadt und des Masterplans 2030 umzusetzen, so der OB.
Natürlich ist es richtig, digitale Projekte, zumal jetzt Mittel dafür da sind, zusammenzufassen. Doch wenn die Stadt und ihre GmbH nicht aufpassen, häuft sich ein Berg von Projekten an, der sich nicht abarbeiten lässt. Vor allem ist der Erfolgskorridor zunächst nur auf zwei Jahre begrenzt. Was geschieht danach? Die Digitalstadt GmbH wird wohl nicht gleich wieder zumachen. Aber Gelder aus der freien Wirtschaft fließen dann nicht mehr. Und es ist nicht auszuschließen, dass beispielsweise die Telekom, die eine Smart Parking App für Darmstadt einführen will, nach den zwei Jahren Unterhaltungskosten für die Technik einfordern wird. Denn die Sensoren, die im öffentlichen Parkraum freie Plätze melden sollen, müssen schließlich gewartet werden.
Und da kommt das nächste Problem: Weder ist klar, wie viel Geld die Unternehmen tatsächlich investieren, noch weiß heute irgendjemand, welche Folgekosten auf die Stadt zukommen könnten. Wie auch? Es muss erst entschieden werden, welche Projekte zum Zuge kommen. Doch vorher müssen die Projekte, die ein Volumen in einer Größe von über 200.000 Euro haben, ausgeschrieben werden. Da türmt sich die Bürokratie. Selbst Investitionen, die der Stadt geschenkt werden, müssen ausgeschrieben werden. Nicht von ungefähr hat die Stadt nun eine Stelle mit Schwerpunkt Vergaberecht ausgeschrieben. Aber all das kostet Zeit und Energie. Ohne Zuarbeit aus allen Verwaltungsbereichen ist die Digitalstadt nicht zu stemmen. Für jedes Basisprojekt gibt es Paten, wie etwa den Feuerwehrchef Johann Braxenthaler für das Thema Sicherheit oder die Leiterin von Darmstadt Marketing, Anja Herdel, für das Thema Handel. Die zahlreichen Mitspieler machen das Großprojekt noch komplexer, vielleicht auch schwieriger handzuhaben.
Doch am Ende steht da eine Herausforderung mit enormen Potenzial: Die Bereiche der Stadtverwaltung sitzen an einem Tisch und entwickeln gemeinsam digitale Lösungen, die der Verwaltung, Bürgern und Wirtschaft das Leben leichter machen sollen. Bauanträge künftig digital stellen und digital abrufen zu können, von welchen Nachbarn man die Zustimmung einholen muss. W-Lan und eine zeitgemäße IT-Ausstattung an Schulen, eine digitale Verkehrsleitzentrale, die zum Verkehrsfluss in der Stadt beiträgt. Intelligente Wasserzähler, die sich per Funk auslesen lassen. Eine Warnapp, die bei einem Wasserrohrbruch anschlägt - all das sind Innovationen, die der Bürger, für den das Thema Digitalisierung derzeit noch sehr abstrakt ist, wirklich spürt.
Vor allem dort, wo die Darmstädter auf ihre Verwaltung treffen, könnte die Digitalstadt zur Entbürokratisierung und zu mehr Bürgerservice beitragen. Das muss sich natürlich in den engen Grenzen des Datenschutzes abspielen. Mit der neuen EU-Datenschutzrichtlinie, die im Mai 2018 in Kraft tritt, werden die Anforderungen noch höher. So schön sich offene Datenbanken (Open Data) anhören - akribisch muss darauf geachtet werden, dass die personenbezogenen Daten geschützt bleiben. Daher gut, dass das Fraunhofer Institut für Sichere Informationstechnik (SIT) mit eingebunden ist. Der Chef des SIT, Michael Waidner, ist nebenberuflich Chief Digital Officer der Stadt.
Das Thema Bürgerbeteiligung wird eine entscheidende Rolle spielen, ob die Digitalstadt ein Leuchtturm- oder ein Elfenbeinturm-Projekt wird. Mit reinen Informationsabenden, die in der abstrakten Erklärung der Projekte verharren, ist es nicht getan. Offen und transparent müssen die Bürger über die Folgen der Digitalisierung aufgeklärt werden. Zum Beispiel, ob wegen der Smart Parking-App Parkplätze im Quartier wegfallen. Auch die demokratische Beteiligung des Stadtparlamentes muss sichergestellt sein. Die jüngsten Anfragen von den Fraktionen im Stadtparlament deuten auf ein Informationsdefizit hin. Das kann sich Darmstadt aber nicht leisten. Denn die Wissenschaftsstadt soll auf Wunsch des Landes auch beim Stichwort "eGovernment" eine Vorreiterrolle einnehmen. Doch bei allen Schwierigkeiten - die Chancen sind zu groß, um sie nicht zu ergreifen.
Von Patrick Körber