Vor einem Jahr holte Darmstadt den Titel Digitalstadt. Der Branchenverband Bitkom hatte diesen Wettbewerb, der mit Millionen-Investitionen aus der freien Wirtschaft verbunden...
DARMSTADT. Vor einem Jahr holte Darmstadt den Titel Digitalstadt. Der Branchenverband Bitkom hatte diesen Wettbewerb, der mit Millionen-Investitionen aus der freien Wirtschaft verbunden ist, ins Leben gerufen. Um aus Darmstadt einen bundesweiten Leuchtturm als digitale Stadt zu machen, hat das Land Hessen weitere Investitionen in Höhe von fünf Millionen Euro zugesagt. Mit Oberbürgermeister Jochen Partsch und einem der drei Geschäftsführer der Digitalstadt GmbH, David da Torre, sprachen wir darüber, warum noch so wenig von dem digitalen Geist zu spüren ist.
Herr Partsch, vor einem Jahr hat die Stadt Darmstadt den Titel Digitalstadt gewonnen. Zu sehen und zu spüren ist davon in Darmstadt bislang nicht so viel. Die frühere Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries meinte Ende Mai sogar, es gehe überhaupt nicht voran.
Partsch: In einzelnen Handlungsfeldern ist vieles zu sehen, wenn man es nicht aus einer Oppositionshaltung heraus betrachtet. Wir entwickeln eine gesamtstädtische Digitalstrategie mit einzelnen Projekten. Das Klinikum hat gerade erst die Auszeichnung Digital Champion erhalten, wir setzen die Digitalisierung an Schulen um. Und im Aufbau eines Lorawan-Netzes (Low Power Wide Area Network - Weites Niedrigenergie-Netzwerk, Anm. d. Redaktion) sind wir so weit wie keine andere Stadt in Deutschland, hier arbeiten wir beispielsweise mit der Firma Merck zusammen.
Haben Sie die Komplexität unterschätzt, das Thema Digitalstadt umzusetzen?
Partsch: Wir wussten, dass es sehr komplex wird, stellen uns aber dieser Aufgabe. Wir haben mit der Digitalstadt GmbH und Hub31 zwei Gesellschaften gegründet, die unseren strategischen Willen umsetzen. Alles, was operativ ist, läuft wiederum in den einzelnen Ämtern beziehungsweise städtischen Gesellschaften sowie den kooperierenden Wissenschaftsinstituten und Unternehmen.
Da Torre: Die Stadtverwaltung ist in den Prozess eng eingebunden. In die Digitalstadt fließen neue, aber auch alte Projekte ein, die wir zusammenführen. Als Digitalstadt GmbH geben wir Impulse und nutzen unser großes Netzwerk. Wir beraten auch kleine und mittelständische Unternehmen. Wir sind Unterstützer und Katalysator.
In den vergangenen Monaten entstand der Eindruck, dass immer mehr Projekte und Ideen gesammelt werden, die alle etwas für die Digitalstadt sein könnten. Aber wie viele Projekte werden schließlich umgesetzt?
Da Torre: Es sind im Kern etwa 30 Projekte, berücksichtigt sind auch bereits laufende Projekte.
Ist die Stadtverwaltung nicht überfordert, nun auch noch die Potenziale für die Digitalstadt zu ermitteln?
Partsch: Die Stadtverwaltung arbeitet sehr gut. Wir werden als erste Stadt in Hessen ein digitales Servicekonto einführen. Bürger können ihre Stammdaten hinterlegen und verschiedene Behördengänge nun online abwickeln. Zum Beispiel das Anwohnerparken oder Personenstandsurkunden. Damit die Daten sicher sind, haben wir das Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie (SIT) in Darmstadt mit an Bord. Den digitalen Service werden wir Zug um Zug erweitern.
Das ist aber kein Stellenabbauprogramm?
Partsch: Nein. Die Mitarbeiter werden dadurch entlastet. Dass wir kein Personal abbauen, erkennt man daran, dass wir in der Stadtverwaltung an verschiedenen Stellen aufstocken.
Das neue an dem Wettbewerb ist, dass die Stadt geldwerte Dienstleistungen von Unternehmen bekommen soll. Wie viel Geld ist zum heutigen Zeitpunkt konkret zugesagt?
Da Torre: Es geht bei den Pro bono-Leistungen, also Produkten und Dienstleistungen, die wir kostenfrei erhalten, um 10 bis 20 Millionen Euro. Wir müssen uns allerdings auch dort an das Vergaberecht halten und Leistungen vorher ausschreiben. Wir durften uns im Vorfeld nicht mit den Sponsoren abstimmen. Auch das kostet Zeit.
Partsch: Das Zentralprojekt wird eine Datenplattform sein, die die Grundlage für Transparenz und Informationsvielfalt ist. Dort werden die stadtweit relevanten Daten miteinander vernetzt. Beispielsweise laufen in dieser Plattform künftig die ganzen Verkehrs- und Umweltdaten ein, die wir über Sensoren und Messstationen erhalten. Und mithilfe dieser Daten lässt sich der Verkehr besser lenken und verflüssigen. Auf dieser Plattform werden die Endgeräte, also die komplette Sensorik, miteinander verbunden und es entsteht ein schneller und direkter Gebrauchsnutzen. Das ist eine Art kommunales Internet of Things. Etwa die Hälfte der Pro-bono-Leistungen wird für dieses Projekt verwendet. Namhafte Partner sind SAP, die Software AG und Telekom.
Sind an diese finanziellen Zusagen Folgeverträge gekoppelt, mit denen die Unternehmen später in Form von Wartungs- oder Serviceverträgen Geld verdienen?
Partsch: Wir sichern uns durch das Vergabeverfahren ab und schätzen dabei die Folgekosten, etwa durch Software-Wartung, ab. Wir können darüber hinaus auf den finanziellen Zuschuss des Landes, der bei 5 Millionen Euro liegt, zugreifen, sodass wir weitest möglich Abhängigkeiten vermeiden können.
Es soll in Darmstadt im Zuge der Digitalstadt das Smart Parking eingeführt werden. Aber dieses System gibt es in Deutschland ja schon. Bei welchen Projekten könnte Darmstadt Vorreiter sein. Was sind die tatsächlichen Leuchtturm-Projekte?
Da Torre: Das ist die angesprochene Datenplattform, Mobilität, die Verflüssigung des Verkehrs und die Verkettung von Projekten. International ist in Sachen Digitalisierung ein Wettbewerb ausgebrochen. In der Breite wie wir sind aber nur wenige unterwegs.
Herr Partsch, Sie sprachen zuletzt von digitalen Mobilitätsketten, was meinen Sie damit?
Partsch: Warum ist das Auto unschlagbar gegenüber anderen Verkehrsmitteln? Weil ich überall schnell und ohne umzusteigen hinkomme. In urbanen Quartieren müssen wir aber den motorisierten Individualverkehr zurückdrängen. In einer App versuchen wir, alle Verkehrsmöglichkeiten sichtbar zu machen und zu vergleichen. Da wird dann auch gezeigt, ob das Auto im Stau stehen würde und welche Möglichkeiten es stattdessen mit Bus, Bahn oder Rad gibt. Dafür brauchen wir die Datenplattform und die Anschlussfähigkeit an die Daten von RMV, Bahn, Car-Sharing-Angeboten und Radverleihern. Das wäre dann ein Leuchtturmprojekt.
Über welchen Zeithorizont sprechen wir?
Partsch: Der Förderzeitraum geht bis Ende 2019. Die Strategie der Digitalstadt reicht aber weit darüber hinaus. Über 2020 werden wir die Digitalstadt GmbH aber nicht mit der heutigen Personalpower weiterführen.
Herr Partsch, Sie haben als Vorzeige-Projekt für Bürgerbeteiligung die Digitalstadt genannt. Aber seit der Auftaktveranstaltung im vergangenen Herbst im Darmstadtium ist bislang nichts Sichtbares passiert.
Partsch: Am 26. September wird es eine große öffentliche Veranstaltung geben, wo wir Anregungen der Bürger aufnehmen. Unser Mängelmelder, der seit Februar online ist, ist auch eine Form der Bürgerbeteiligung.
Da Torre: Mit unserem geplanten mobilen Stadtlabor kommen wir in die Quartiere, wo die Menschen leben, und stellen vor Ort unsere digitalen Projekte vor. Dadurch erhoffen wir uns, jüngere Leute zu erreichen.
Mit all den Beteiligungsformaten wird nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe interessierter Bürger bedient. Wie erreichen Sie die anderen, die vielleicht Angst davor haben, was da auf sie zukommt?
Partsch: Die Hauptangst, die sich bei vielen mit der Digitalisierung verbindet, ist die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, die Angst vor dem sozialen Abstieg. Das andere ist die Angst vor Datenmissbrauch und die Frage, wer die Daten kontrolliert. Das werden wir mit unserem Ethik- und Technologiebeirat diskutieren. Wir müssen uns auch den Leuten beständig zuwenden, die für uns nicht erreichbar sind, das ist eine grundsätzliche Herausforderung an die Politik, nicht nur bei der Digitalisierung. Wenn es uns gelingt, mit dem neuen Servicekonto eine wirkliche Verbesserung für die Bürger zu erreichen, können wir das Vertrauen in unsere Handlungsfähigkeit stärken.
Wie sieht es denn damit aus, den 5G-Standard in Darmstadt und Region einzuführen - die SPD hat eine entsprechende Forderung aufgesetzt.
Da Torre: Wir sind mit verschiedenen Anbietern im Gespräch. Wir müssen uns aber auch bewusst sein, dass 5G heute noch kein Übertragungsstandard ist und nicht von jedem genutzt werden kann. Wenn wir aber die teilautonome Straßenbahn einführen wollen, ist 5G unerlässlich, um viel mehr Daten mobil übertragen zu können.
Welche Risiken sehen Sie in der Digitalisierung?
Partsch: Das Risiko liegt darin, dass die Ökonomisierung des Lebens noch schneller passiert als bisher. Ich finde es bedrückend, dass, wenn man Google oder Facebook nutzt, durch Algorithmen sofort angezeigt bekommt, was einen interessieren könnte, ohne dass wirklich klar ist, wer das wie bestimmt. Die Wahrnehmung von Wirklichkeit verändert sich also unbewusst. Autoritäre Regime erhalten durch die Digitalisierung Möglichkeiten, die Bevölkerung zu steuern.
Und warum überwiegen Ihrer Ansicht nach die Chancen?
Partsch: Durch die Digitalisierung wird die Welt transparenter, und sie kann uns klüger und schneller machen. Wobei Schnelligkeit nicht immer gut ist.
Da Torre: Die große Chance ist, dass die Digitalisierung Lebensqualität steigern kann.
Von Das Interview führte Patrick Körber