Die blinde Lydia Simon ist ausgebildete Medizinische Tastuntersucherin
Von Petra Neumann-Prystaj
An einem Dummy demonstriert Lydia Simon das Vorgehen bei der Brustkrebsfrüherkennung. Foto: Andreas Kelm
( Foto: Andreas Kelm)
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
DARMSTADT - Dienstags und donnerstags macht sich die blinde Lydia Simon (28) zu Fuß auf den Weg in die frauenärztliche Gemeinschaftspraxis Gynaecologicum am Wilhelminenplatz. In einem hellen, geschmackvoll eingerichteten Raum untersucht sie die Brüste von (dafür angemeldeten) Patientinnen nach möglichen Anzeichen eines Tumors. Meist kann sie Entwarnung geben.
Ihr entgeht kein Zwischenraum
Wenn Brustkrebs, die häufigste Krebsart bei Frauen, rechtzeitig erkannt wird, sind die Heilungschancen gut. Erst ab zwei Zentimeter Größe ist ein Knoten gut fühlbar, Tastexpertinnen wie Lydia Simon können aber schon sechs bis acht Millimeter große Gewebeveränderungen erspüren. Erst mit leichtem, dann aber auch festerem Druck von Mittel- und Zeigefinger prüft sie in drei Tiefenschichten die Gewebestruktur der Brust und folgt dabei einem Koordinatensystem. Durch diesen standardisierten Ablauf ist gewährleistet, dass ihr kein Zwischenraum entgeht.
Seit ihrem vierten Lebensjahr ist die vom Integrationsunternehmen „Discovering hands“ zur Medizinischen Tastuntersucherin ausgebildete Psychologin blind und hat einen hochsensiblen Tastsinn entwickelt, der ihr jetzt zugutekommt. Ihr ist es wichtig, dass die – je nach Körbchengröße – 30 bis 60 Minuten dauernde Brustuntersuchung ohne Zeitdruck in einer freundlichen Atmosphäre abläuft. „Vorsorge sollte ein positives Erlebnis sein“, erklärt sie. Vor ihr steht ein Laptop, auf dem sie die Untersuchungen für die Gemeinschaftspraxis protokolliert. Sie hat den Status einer Arzthelferin. Wenn ihr etwas Ungewöhnliches auffällt, schickt sie die Patientin umgehend zu einer der Ärztinnen, die ihren Verdacht mit einer Ultraschalluntersuchung überprüft.
ÜBER „DISCOVERING HANDS“
Das Integrationsunternehmen „Discovering hands“ mit Sitz in Mühlheim/Ruhr bildet blinde oder stark sehbehinderte Frauen in Berlin zu Tastuntersucherinnen für die ärztliche Assistenztätigkeit aus. Sie stellt sie anschließend ein und vermittelt sie wohnortnah an mehrere Gynäkologen. Für die Frauen ist dies eine berufliche Chance. Sie haben ihren festen Einsatzplan und untersuchen pro Tag bis zu acht Patientinnen.
Bis 2020 sollen in der Bundesrepublik über 100 Medizinische Tastuntersucherinnen beschäftigt werden. Dreizehn gesetzliche Krankenkassen und alle privaten Krankenversicherungen übernehmen die Kosten der Brustkrebsfrüherkennung ohne Apparate. Das Sozialunternehmen wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet.
Internet: www.discovering-hands.de. (pep)
Lydia Simons Ausbildung dauerte neun Monate. In dieser Zeit hat sie nicht nur viel Theoretisches über den anatomischen Aufbau der weiblichen Brust gelernt, sondern auch das Ertasten von krebsverdächtigen Knoten geübt – vor allem an Modellen. „Das fühlt sich an wie ein Steinchen“, so die Faustregel. Sie kontrolliert die Lymphknoten und untersucht die Brust im Sitzen und im Liegen. Bei manchen Frauen fühlt sie knotiges Drüsengewebe – kein Grund zur Panik, sondern Veranlagung. Mit ihrer ruhigen, freundlichen Art gelingt es ihr, verkrampften Patientinnen die Angst zu nehmen.
Bezahlt wird sie von „Discovering hands“, einem von einem Frauenarzt gegründeten Sozialunternehmen, das außer ihr bundesweit noch weitere 40 Medizinische Tastuntersucherinnen beschäftigt. Es vermittelt sie auch an andere frauenärztliche Praxen weiter. Lydia Simon, die an der Darmstädter TU Psychologie studiert hat, will sich ab Dezember zur systemischen Beraterin weiterbilden lassen.
Nach ihrem erfolgreichen dreimonatigen Praktikum hat das Gynaecologicum die Achtundzwanzigjährige gern übernommen. „Dass es Tastuntersucherinnen gibt, weiß ich seit Jahren“, sagt die Frauenärztin Dr. Christine Hartmann, „nur nicht im Rhein-Main-Gebiet. Diese Lücke ist jetzt geschlossen“. Eine ihrer Patientinnen sei sogar nach Köln gefahren, um dort eine Tastexpertin aufzusuchen. Dr. Hartmann betont, dass die ausführliche Untersuchung eine Ergänzung zu den anderen Früherkennungsverfahren sei und diese nicht ausschließe. Einigen wenigen Patientinnen, bei denen Lydia Simon ungewöhnliche Verhärtungen festgestellt hatte, blieb der Weg zur Mammographie nicht erspart. Übrigens können auch Männer die Brustuntersuchung in Anspruch nehmen – wenn sie eine entsprechende familiäre Vorbelastung haben.