Der Zug für Arme ist abgefahren

Schon für eine einfache Monatskarte reicht der Hartz-IV-Regelsatz nicht aus. Archivfoto: Guido Schiek
© Guido Schiek

Das "Sozialticket" für Darmstadt sollte nach langem Verhandeln und Ringen ab Juli kommen. Monatskarten für den öffentlichen Nahverkehr sollten dann durch einen Zuschuss der...

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DARMSTADT. Das begehrte Kärtchen lag als Fotokopie schon auf den Tischen der Darmstädter Politiker und Presseleute, vorerst ausgestellt auf "Max Mustermann". In Scheckkarten-Größe hatte der Magistrat den Entwurf anfertigen lassen: "Berechtigungsnachweis zum Erwerb einer vergünstigten Monatskarte", gültig für bedürftige Bürger, die Hartz IV beziehen und für viele andere Darmstädter, die Sozialleistungen bekommen. Das "Sozialticket" sollte nach langem Verhandeln und Ringen ab Juli kommen. Monatskarten für den öffentlichen Nahverkehr sollten dann durch einen Zuschuss der Kommune ein Drittel günstiger werden. Doch bevor die Stadtverordneten auf ihrer jüngsten Sitzung am Dienstagabend die Hände zur Abstimmung über die Magistratsvorlage heben konnten, war das Ticket schon wieder verschwunden.

Angesichts des drückenden Haushaltsdefizits verkündete Oberbürgermeister Jochen Partsch (Grüne) kurzerhand, die Vorlage sei "vorläufig zurückgezogen." Nun ist das Ticket erst mal vom Tisch. Das Thema ist es nicht, im Gegenteil. Der Stadt stehen möglicherweise nun Klagen von Arbeitslosen ins Haus.

Die Klagen drohen Vertreter der gewerkschaftlichen Initiative Galida an. Diese wettert schon seit Jahren gegen den "willkürlichen Ausschluss von Hartz-IV-Empfängern" von den Nahverkehrszuschüssen der Stadt. Denn von den Bedürftigen werden nicht alle gleich behandelt. Wer Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) XXII bezieht, entsprechend der früheren Sozialhilfe, der bekommt von jeher eine Ermäßigung, wenn er mit Bahn und Bus durch Darmstadt fahren möchte. Viele ältere Menschen nutzen diesen Zuschuss. Im Jahr 2015 kostete das die Stadt rund 22.000 Euro. Eine "freiwillige Leistung", die bis 2009 auch die Langzeit-Arbeitslosen bekommen haben, die Hartz IV beziehen. Doch dann wurde das Geld in der Haushaltskasse knapp - und der Magistrat prüfte und beschloss, diesen Teil zu kürzen. Sozialdezernent der rot-grünen Stadtregierung damals: Jochen Partsch.

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Frank Gerfelder-Jung gehört zu denen, die sich lautstark dagegen wehren. Er rechnet vor: 22,77 Euro stehen ihm als Hartz-IV-Bezieher monatlich als "Regelbedarf" für die Benutzung von Bussen und Bahnen zu - "damit kommen Sie in Darmstadt nicht weit." Schon das normale Monatsticket für die Innenstadt kostet 38,50 Euro. Die günstige 9-Uhr-Zeitkarte der Preisstufe 2 (gültig für Innenstadt und Stadtteile) liegt bei 54,80 Euro. Die Differenz "muss sich jeder vom Munde absparen", sagt Gerfelder-Jung. "Damit ist keine Teilhabe an der Mobilität möglich."

Genau das hatten die Grünen freilich vor der Kommunalwahl 2016 in ihr Programm geschrieben. Und dann lange geschwiegen. Die Initiative Galida machte Druck; im "Bündnis für soziale Gerechtigkeit" setzten sich Politiker und Aktivisten zusammen und besprachen die Möglichkeiten, einen Zuschuss für alle sozial Schwachen zu ermöglichen. Dass die Sozialdezernentin Barbara Akdeniz (Grüne) sich bewegte, mag auch daran gelegen haben, dass der Stadt rechtliche Konsequenzen drohten - und weiter drohen.

Die Aktivisten verwiesen auf ein Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg aus dem Jahr 2014. Das stellte fest, dass beide Gruppen - die Empfänger von Leistungen nach SGB XII wie die von Hartz-IV - gleich behandelt werden müssten. "Beide Personengruppen sind im Wesentlichen gleichermaßen bedürftig beziehungsweise einkommensschwach", heißt es in der Begründung. Um die Ungleichbehandlung rechtfertigen zu können, "bedürfte es daher weiterer tragfähiger Sachgründe." Die zu liefern, könnte knifflig werden - so deutet es zumindest das Rechtsamt der Stadt Darmstadt in einer Stellungnahme an. Das Augsburger Urteil ist zwar nicht bindend für Darmstadt. Aber eine "rechtssichere Lösung", so Dezernentin Akdeniz, könnte das Sozialticket für beide Gruppen bieten.

200.000 Euro hätte die Stadt in diesem Jahr dafür bereitgestellt, im Jahr 2018 dann bis zu 400.000 Euro. Das wird nun vertagt. "Ich riskiere jetzt, dass geklagt wird, klar", sagte die Stadträtin nach der Sitzung. Die Galida würde ihrerseits einiges riskieren: Wenn die Initiative auf Gleichbehandlung pocht, "kann das auch heißen, dass am Ende keiner mehr was bekommt", ahnt Gerfelder-Jung. Die Klageschrift liege zwar schon "in der Schublade". Aber bevor die wirklich auf den Weg geht, "müssen wir uns unter anderem mit dem Seniorenbeirat abstimmen." Sonst könnten die Arbeitslosen am Ende noch doppelt abgestraft werden. Ausgebremst fühlen sie sich allemal: "In diesem Jahr", ahnt Gerfelder-Jung, "passiert da nichts mehr."