Schriftgießer Rainer Gerstenberg hat seine Arbeitsstätte im Haus für Industriekultur in Darmstadt. Er stellt auf Bestellung Schriftzeichen her.
Von Sibylle Maxheimer
Rainer Gerstenberg ist als Schriftgießer im Haus für Industriekultur an der Kirschenallee tätig.
(Foto: Guido Schiek)
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
DARMSTADT - „Diese Mater zum Leben zu erwecken“, sagt Schriftgießer Rainer Gerstenberg und deutet auf ein kleines, rechteckiges Stahlstück, „ist meine Aufgabe“. Die Mater, im Buchdruck die Mutterform der Letter oder Type, wurde früher in Kupfer, später in Messing geschlagen, heute wird sie in Stahl gefräst. Durch glückliche Umstände, mit sehr viel Geld und der enormen Standfestigkeit von Experten befindet sich der Bestand von einer Million Matern aus dem Nachlass der bedeutenden Frankfurter Stempel AG heute im Keller der Abteilung Schriftguss, Satz, Druckverfahren des Hessischen Landesmuseums in der Kirschenallee, in der so genannten Maternkammer.
Als der aus Sachsenhausen stammende Rainer Gerstenberg seine Lehre zwischen 1961 und 1964 absolvierte, prophezeite man ihm bereits, dass er einmal „der Letzte seines Standes“ sein wird. Diese Vorhersagung hat sich bewahrheitet: Der heute 72 Jahre alte Handwerker, der bei Stempel bis zur Schließung im Jahr 1986 beschäftigt war, ist weltweit der letzte Schriftgießer und im Druckmuseum von einem unersetzbaren, mehrere hundert Tonnen schweren gegossenen Schriftenschatz umgeben. Viele der Gussformen hat er in 55 Jahren selbst gefertigt. Weil er durch und durch Frankfurter ist, gegenüber vom Gemalten Haus an der Schweizer Straße über dem Frisörgeschäft seines Vaters Werner geboren wurde, wollte er zunächst in seiner Heimatstadt ein solches Museum etablieren. Doch der damalige Oberbürgermeister Walter Wallmann stellte klar, dass er kein Haus unterstützt, „in dem man sich die Hände schmutzig macht“. Für Drucker, Schriftsetzer, -künstler und -gießer sind das freilich schlechte Argumente und in Darmstadt stieß man mit dem Projekt auf offene Ohren.
Das Haus für Industriekultur, in dem die Schriftgießerei Gerstenberg ihren Sitz hat, möchte das industrielle Erbe des Maschinenzeitalters erhalten und dessen kulturellen Wert vermitteln. An laufenden Maschinen werden Arbeitstechniken vorgeführt, die die Mechanisierung im grafischen Gewerbe von Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts aufzeigen. Gleichzeitig lässt sich die Entwicklung von der reinen manuellen Tätigkeit bis hin zu maschinellen Arbeitsabläufen in der Druckindustrie nachvollziehen.
Täglich kommt Rainer Gerstenberg nach Darmstadt, um die Matern „auf Form“ zu bringen. Vor ihm liegt ein Auftrag von einem Kunden, der die Schrift „Neuzeit-fett“ mit nordischen Akzenten bestellt hat. Mit den Matern für Groß- und Kleinbuchstaben, Ligaturen, Ziffern und Punkturen stellt der Fachmann die bestellten Stückzahlen her. Mit schnellen, sicheren Griffen bedient er Hebel und Bolzen der Doppelgießmaschine, hantiert mit Schraubenschlüssel, Dicktendorn, Lupe, Pinzette, Prüfwerkzeugen: Eingespielte Arbeitsgänge, die pro Schrift rund hundertdreißigmal ausgeübt werden.
Rundherum ist der Schriftgießer, der von seiner Tochter Angelika Wade unterstützt wird, von Bleischränken mit hunderten von Schubfächern, schweren Maschinen, vom kompletten Schriftenprogramm der Stempel AG, wie auch aufgekauften Beständen anderer Schriftgießereien, umgeben. In schwerem Papier verpackte Schriftzeichen-Sätze liegen in Regalen zum Versand bereit. Buchstaben der japanischen Schrift Hiragana, die noch in Holzwinkelhaken liegen, werden später wieder in Sortierkästen geräumt. Bei Bestellungen, sagt Gerstenberg, muss „ich schauen, ob ich die Schriften habe, wenn nicht, muss ich sie selbst gießen“. Weltweit ist seine Arbeit eine „einmalige Sache“, betont er und fügt stolz an, dass es „so etwas nirgends mehr gibt“.
Wenn er sich etwas wünschen dürfte, sagt der Mann der Typen und Lettern, wünschte er sich „eine Liste, auf der alle Druckmuseen der Welt stehen und präsentieren, was sie haben“. Zudem sollten alle miteinander kooperieren. Nur so gelänge es, das gewaltige Erbe des grafischen Gewerbes weiterhin am Leben zu erhalten.