Wenige widmen sich der Frage, wie die Gesellschaft mit Demenz umgeht, länger als Peter Wißmann. Der Experte wirbt für eine neue Debattenkultur - und zeigt große Versäumnisse auf.
Von Andre Heuwinkel
Lokalredakteur Darmstadt
Foto: dpa
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
DARMSTADT/STUTTGART - Während Demenz im medizinischen Diskurs einen großen Raum einnimmt, gilt dies für die damit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht. Ist unsere Infrastruktur auf 40 000 neu an Demenz erkrankte Personen pro Jahr überhaupt eingestellt? Für den Autor, Publizisten und Wissenschaftlichen Leiter der gemeinnützigen Gesellschaft DemenzSupport, Peter Wißmann, hakt es vor allem in der Teilhabe. Auf einem anderen Themenfeld ist Deutschland gar "Entwicklungsland".
Herr Wißmann, wenn wir uns die Frage stellen, wo wir als Gesellschaft im Umgang mit Demenz stehen, müssen wir auch fragen, wo wir herkommen. Was hat sich aus Ihrer Sicht in den vergangenen Dekaden verändert?
Früher wurde Demenz vor allem als Versorgungsfrage behandelt. Es war oft ein reiner Profidiskurs. In den 90er Jahren fing es damit an, dass sich Angehörige und die Alzheimergesellschaften in die Debatte eingebracht haben. Vor allem aber, wie das Thema damals medial aufgegriffen wurde, war gänzlich anders. Ich würde das heute zum Teil als "katastrophal" bezeichnen. Ich erinnere mich noch sehr gut an eine Titelstory eines großen Magazins, das Demenz als Schwerpunktthema hatte. Das war grauenvoll! Es war beispielsweise die Rede von "leeren Hüllen", die vor sich hinwelkten. Als ich mich mit der Bemerkung an die Redaktion gewandt habe, dass man so etwas nicht schreiben könne, bekam ich die Antwort zurück, ich könne ja weiter meinem Idealismus frönen.
Es gab noch weitere Zwischenphasen, etwa ein anderer Blick auf die Betroffenen. Also weg vom "Siechtum", hin zur personenzentrierten Begleitung. Das war dann wirklich eine Zäsur, die sagte: Es ist nicht "der demente Mensch", sondern eine Person, die unter anderem auch eine Demenz hat. Darin steckte eine neue Würdigung. Damit war aber der gesellschaftliche Kontext noch nicht gewürdigt. Das geschah erst Anfang der 2000er Jahre, als die Robert-Bosch-Stiftung ein Programm initiierte - Besser leben mit Demenz - das sich der Frage widmete: Wo stehen wir, wo wollen wir hin. Ab hier war Demenz ein soziales Thema. Für einen Schub in Richtung Teilhabe sorgte dann die UN-Behindertenrechtskonvention. Seit zehn Jahren widme ich mich der Frage der Partizipation.
ZUR PERSON
Peter Wißmann (64) ist Wissenschaftlicher Leiter der DemenzSupport gGmbH Stuttgart. Bis 2019 war er geschäftsführender Co-Herausgeber der Fachzeitschrift "demenz.Das Magazin". Darüber hinaus verfasste Wißmann Expertisen für die Politik wie etwa "Leben mit Demenz in der Kommune - vernetztes Handeln vor Ort" für das Bundesfamilienministerium. (aheu)
In der öffentlichen Infrastruktur hat sich seitdem einiges getan:_Inzwischen gibt es Demenzwegweiser, das "Sozialraumorientiere Netzwerk in der Altenhilfe" (SoNAh) der Caritas und Handreichungen wie "Leben mit Demenz in der Kommune". Wie gut sind die Städte auf das Phänomen Demenz vorbereitet?
Bei der von Ihnen angesprochenen Handreichung ging es auch um eine Bestandsaufnahme. In den Kommunen finden Sie die ganze Bandbreite: Es gibt Städte und Gemeinden, bei denen Sie auf Granit beißen und bis heute gar kein Problembewusstsein existiert. Dann gibt es Kommunen, in denen die Bürgermeister einen Handlungsbedarf erkennen bis hin zu solchen, die als modellhafte Kommunen betrachtet werden können. Sie sind aber in der Minderheit. Eine sozialräumliche Strategieplanung gibt es eher selten.
Haben viele Menschen zu wenig Ahnung vom Alltag eines Demenzerkrankten?
Es gibt tatsächlich bei vielen Menschen eine gewisse Prägung, was sie darunter verstehen. Oft haben sie das Bild eines Menschen vor sich, der völlig hilflos und desorientiert ist, nichts mehr auf die Reihe bekommt. Das ist in der Praxis aber keinesfalls immer der Fall. Nehmen Sie unser Gespräch. Es könnte sein, dass ich demenziell erkrankt bin und Sie es gar nicht merken, weil ich es gelernt habe, am Telefon mit so jemandem zu reden, dass es Ihnen gar nicht auffällt. Zugleich kann es aber sein, dass ich meinen Heimweg vergessen habe. Ich möchte die Facetten aufzeigen und Prozesse abbilden, die mit der Demenz einhergehen. Sehr viele Betroffene können noch wahnsinnig viel: Reden, alleine unterwegs sein, Kaffee kochen und so weiter. Zugleich gibt es die Dinge, die nicht mehr klappen: Hobbys, der Besuch im Schwimmbad, komische Kassenautomaten. Dies führt dazu, dass ich in meinem Alltag unheimlich beschränkt werde, weil ich mich unsicher fühle. Und hier sind wir bei der Teilhabe: Wenn ich die Dinge, die ich gerne mache, nicht mehr wahrnehmen kann, fliege ich gewissermaßen raus - obwohl ich eigentlich noch recht fit bin.
Gibt es Hilfsmittel im Alltag - Apps zum Beispiel oder Orientierungshilfen im Stadtbild?
Es ist gut, wenn es im Stadtbild sogenannte Landmarks gibt, also markante Plätze, Bauwerke wie etwa bei Ihnen das Ludwigsmonument in Darmstadt. Die Erfahrungen aus unseren Projekten zeigen, dass es unterschiedliche Strategien gibt, mit denen die Betroffenen sich helfen. Das können technische Hilfsmittel wie eine Smartwatch sein, die so eingestellt ist, dass sie mich daran erinnert, wo ich mich gerade befinde. Natürlich ist es hilfreich, wenn man den Umgang mit diesen Mitteln vorher schon gewohnt war. Ich kenne jemanden, der innerhalb von zwei Minuten quasi alles vergisst, was ich ihm sage - aber mit Apps sehr gut umgehen kann. Eine andere Strategie im Alltag ist es, Strecken wiederholt abzugehen, um Sicherheit zu gewinnen.
Welche Rolle spielt Demenz in der Stadtplanung oder dem Öffentlichen Personennahverkehr? Es ist schon einmal ein Fortschritt, wenn Straßennahmen im Bus angesagt werden.
Hier kommen zwei Dimensionen zusammen: Einerseits die technischen Hilfestellungen, die Sie gerade exemplarisch genannt haben. Zudem ist es wichtig, das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Das bedeutet, dass auch tatsächlich jemand sensibilisiert ist und wie im ÖPNV-Verkehr seine Unterstützung anbietet. Das sind Aspekte, die die Qualität eines demenzsensiblen Umfelds ausmachen. Im öffentlichen Raum ist es außerdem wichtig, Räume zu erkennen, die eigentlich desorientierend sind. Ich kenne das schließlich von mir selbst, wenn ich da so an manches Bahnhofsumfeld denke. Wenn ich in Eile bin, ist es für mich sehr schwierig, den Überblick zu behalten. Wie soll es da erst anderen ergehen?
Was raten Sie also?
Es mag abgedroschen klingen, aber: Die Dinge einfacher zu machen. Wie viele Menschen scheitern an Ticketautomaten? Muss das alles so kompliziert sein? Es wäre fein, auch Angebote, die für Kinder, Jugendliche und Menschen mit Beeinträchtigungen geeignet sind, beizubehalten.
Weitestgehend unter dem Radar läuft das Phänomen Demenz und Beruf. Wird derjenige, der seinem Arbeitgeber seine eigene demenzielle Veränderung offensiv mitteilt, "bestraft"?
Ich plädiere seit Jahren, im Alltag offen mit der Demenz umzugehen. Im beruflichen Kontext sollte man aber zurzeit noch sehr vorsichtig sein. Es ist heute in fast allen Branchen so, dass man nach so einem Outing weg ist vom Fenster. In der Verbindung von Demenz und Arbeitswelt sind wir in Deutschland eigentlich noch Entwicklungsland. Als Paradebeispiel hatten wir in unserem Magazin eine Architektin, die in zwei Jobs arbeitete: in einer Landesberatungsstelle und im Architekturbüro ihres Mannes. Die erste Stelle war sie dann los, nachdem sie dem Arbeitgeber davon erzählt hatte. Fakt ist aber: Diese hochintelligente Frau ist heute weiterhin Architektin und baut Häuser. Und das klappt: Sie behilft sich bei den Konstruktionen mit den berühmten gelben Zetteln und eine andere Person nimmt die Endabnahme der Pläne vor.
Was ist für Sie das größte Versäumnis?
Es wird nach der Diagnose nicht mehr geschaut, was die Betroffenen tatsächlich noch können. Was ich skandalös finde ist, dass wir in Deutschland zwar seit vielen Jahrzehnten gute Instrumente der Arbeitseingliederung für Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen haben, diese Instrumente Menschen mit kognitiven Störungen größtenteils vorenthalten werden. Um es mal ganz zuzuspitzen: Das ist verfassungswidrig - und natürlich katastrophal für das Selbstwertgefühl!
Es gibt inzwischen sehr interessante Wohnprojekte: Demenz-Wohngemeinschaften wie die WG Waldmühle in Ober-Ramstadt oder neue Mehrgenerationenhäuser. Ist Demenz ein Plädoyer dafür, neue Wohnformen auszuprobieren?
Auf jeden Fall! Wir müssen wegkommen von Geschichten wie "Du wohnst alleine zuhause" oder im Heim. Ambulant-betreuende Wohngemeinschaften sind für mich eine wunderbare Form des Zusammenlebens, die vielleicht nicht für alle, aber für viele Menschen geeignet ist. Auch intergenerative Projekte sind sehr spannend. Dabei geht es aber nicht darum, Einrichtungen zu schaffen, in denen nur bestimmte Personengruppen leben, sondern die gut durchmischt sind. Und: Das Ganze muss sich nicht zwingend in der Stadt abspielen, es kann auch ein Wohnprojekt auf einem Bauernhof sein. Die Menschen werden sich dann ganz von selbst beschäftigen.