Einen Gegner hatten die Darmstädter gesucht, eigentlich. Und Freunde gefunden. Beherzte Hobbykicker aus dem Martinsviertel fragten 1975 in der Partnerstadt Troyes nach, ob es...
DARMSTADT. Einen Gegner hatten die Darmstädter gesucht, eigentlich. Und Freunde gefunden. Beherzte Hobbykicker aus dem Martinsviertel fragten 1975 in der Partnerstadt Troyes nach, ob es dort Gleichgesinnte gebe. Sie bekamen Post vom „Comité des Jumelages“, zuständig für die Verschwisterung beider Städte: Auch dort gebe es ein Martinsviertel, das Quartier Saint Martin, in dem ebenfalls Fußball gespielt werde, informierte der Generalsekretär Jean Beckmann. Die erste Stadtteil-Partnerschaft auf europäischer Ebene war geboren. Die Turniere gegen „Avant-Garde de Troyes“ sind heute legendär.
Völkerverständigung von unten funktioniert in Darmstadt
Inzwischen spielen die Geschwister mehr Boule als Fußball; im Herrngarten sieht man sie sommers eine ruhige Kugel schieben. Kann sein, dass ein paar heimische Biere mit im Spiel sind, die Gäste revanchieren sich gern mit dem heimischen Käse und Champagner, für beide Seiten ein guter Tausch. Sie gehören zu einem weit gespannten Netz von Beziehungen, die seit der offiziellen Städtepartnerschaft 1958 aus privater Initiative entstanden sind. Neue kommen hinzu. „Die Völkerverständigung von unten“, heißt es bei der Stadt, funktioniere auch 2018 noch.
Die älteste Städtepartnerschaft Darmstadts, 60 Jahre alt, wird mit einer Festwoche vom 3. bis 10. Juni gefeiert. Klar, die sportlichen Martinsviertler werden dabei sein – eine Gruppe von Dutzenden in der Stadt, die den guten Draht nach Troyes halten. Der Chauffeur-Verein Darmstadt zuckelt mit den Freunden vom „Rétro Club Automobile de Champagne“ über die Odenwald-Straßen. Die Kantorei der Stadtkirche singt in der Eglise Sainte-Madeleine, einem Sahnestück gotischer Zuckerbäckerkunst. Die Nacktbader beider Städte besuchen einander ebenso wie die Wirtschafts-Junioren, die Esperanto-Gruppe und die Ruderfreunde. Viel persönliches Engagement trägt diesen Austausch. Die Kommune unterstützt die Verbindungen, wo nötig – die Nachfrage, heißt es beim Amt für Internationales, sei nach wie vor stark.
20 Prozent der Reisekosten werden von der Stadt bezahlt, sagt Bernd Schäfer vom Amt. 10 000 Euro pro Jahr stehen für alles zur Verfügung. Das reiche aus: „Wir haben noch nie jemanden ablehnen müssen.“ Auch Vertreter der Stadt reisen regelmäßig in die Champagne. Wenn das Europa-Jugendorchester im Oktober auf Konzertreise geht, will Oberbürgermeister Jochen Partsch dabei sein. Allerdings: Um jüngere Darmstädter für den Austausch zu begeistern, müsse man schon etwas bieten, heißt es bei vielen Aktiven. Mehr als Käse, Kirchen und Champagner.
Klar: Die Motivation der Gründerzeit ist längst verflogen. Alfred Corbet von der Jumelage Européens PTT beschreibt es so: „Die einstigen Kriegsgegner, die aufeinander geschossen hatten, wollten sich damals freundschaftlich in die Arme fallen.“ Es galt, Grenzen zu überwinden. Das ist für die jungen Deutschen wie Franzosen freilich zur Selbstverständlichkeit geworden. Heute müsse man Jugendliche eher „für aktuelle politische Prozesse begeistern“, um sie für die Verschwisterung zu gewinnen, sagt Patricia Latorre vom städtischen Partnerschaftsamt. Der Brexit und die Krise in Südeuropa könnten Anknüpfungspunkte sein. „Man muss es eher in politische Themen verpacken“, Workshops anbieten – die freilich auch Spaßfaktor haben sollten.
An den Darmstädter Schulen passiert das längst. Zurzeit packen Schüler des Lichtenberg-Gymnasiums und der Georg-Büchner-Schule ihre Koffer, um Richtung Troyes zu fahren. Keine Klassenfahrten, sondern freiwillige Treffen mit Gleichgesinnten: Die Schüler diskutieren mit den Nachbarn zu Themen wie Nachhaltigkeit, neue Medien, Integration, Vorurteile und Gesundheit. Das europaweite „Erasmus plus“-Programm macht’s möglich. Schulleiter Norbert Ganß kann über Europa-Müdigkeit nicht klagen: „Wir könne die Nachfrage bei uns gar nicht bedienen.“
So junge Frankreich-Fans wären bei den älteren Vereinen willkommen. Bei der Jumelage der Postler liegt der Mitglieder-Schnitt bei über 60; von den einst 1000 Vereinsleuten sind noch 300 dabei. Bei den Martinsviertlern reicht inzwischen ein Kleinbus, um die Reiselustigen nach Saint Martin zu bringen. Die Franzosen hingegen kommen noch in größerer Zahl, zuletzt waren sogar zwei junge Leute Anfang 20 dabei. Bei den Familien aus Troyens „reicht das Interesse über die Generationen“, sagt Armin Schwarm, einer der aktiven Martinsviertler. Er ist gespannt, wer dieses Jahr so alles anreist: Bevor die Stadt im Sommer groß feiert, wird am Rand des Quartiers an Pfingsten mit den Gästen gegrillt, in einer Hütte im Bürgerpark, die nach Pionier Jean Beckmann benannt ist.