Corona-Pandemie bringt Altenheime an ihre Grenzen

„Das System ist am Rande der Leistungsfähigkeit“, sagt Jürgen Frohnert, Vorsitzender der Fachkonferenz Altenhilfe. Archivfoto: Jürgen Blume

Für Zuwendung bleibt zu wenig Zeit, sagt der Darmstädter Pflegefachmann Jürgen Frohnert: „Wir brauchen dringend bessere Personalschlüssel“.

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DARMSTADT. „Wir sind häufig an der Grenze dessen, was vom Personal leistbar ist. Das System ist am Rande der Leistungsfähigkeit.“ Das sagte Jürgen Frohnert, Vorsitzender der Fachkonferenz Altenhilfe in Darmstadt, bereits einige Monate vor der Corona-Pandemie. Mit dem Virus wurde die Situation dann noch angespannter. Ein Gespräch über die Pflege in Krisenzeiten.

Herr Frohnert, Sie sind für die Fachkonferenz Altenhilfe im Corona-Krisenstab der Stadt. Gibt es so eine Art Kummer-Nummer für Pflege-Einrichtungen, die in der Corona-Krise nicht mehr weiter wissen?

Wir brauchen kein Kummertelefon, man kennt sich: Hinter der Fachkonferenz steckt ein Netzwerk aus mehr als 40 Institutionen und Anbietern. Da sind die Wege kurz. Hier in Darmstadt wird zumindest in den stationären Einrichtungen jeder einzelne Fall betrachtet. Die Abstimmung mit der Stadt und dem Gesundheitsamt funktioniert gut.

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Wie sieht die Lage in den Altenheimen derzeit aus?

Die Corona-Tests sind knirschend angelaufen. Ich hätte mir schon im Frühjahr vergangenen Jahres mehr Tests gewünscht. Das hat viel zu lang gedauert: Mitarbeiter, die sich infiziert haben, aber keine Symptome zeigen, fallen nur auf, wenn Schnelltests gemacht werden. Derzeit ist das Infektionsgeschehen in den Einrichtungen abgeflaut, es gibt nur noch ganz wenige Fälle, und die Erst-Impfung der Bewohner und Mitarbeitenden ist fast abgeschlossen. Die seitens der Stadt zum Anschub finanzierte Task-Force für Schnelltests ist für viele Einrichtungen eine enorme Entlastung.

Im Dezember und auch noch im Januar sah es in einigen Darmstädter Pflegeheimen noch düster aus, oder?

Einige Einrichtungen mussten in Quarantäne, weil viele Bewohner und Mitarbeitende an Corona erkrankt waren. Da haben wir gesehen, wie eng das System ist: Wenn Mitarbeitende ausfallen, zusätzliche Aufgaben dazukommen, zum Beispiel regelmäßig getestet wird, dann bringt das die Einrichtungen oft an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Ob nun ambulante oder stationäre Pflege: Da sind wir auf Kante genäht: Für Zuwendung bleibt zu wenig Zeit, und in der Krise spitzt sich das nochmal zu. Wir brauchen dringend einen besseren Personalschlüssel.

Braucht es denn auch neue Strukturen?

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Ja. Die Probleme im System sind offenkundig. Wir müssen aus der Pandemie dringend Lehren ziehen – und wir müssen Vorsorge treffen, falls weitere Pandemie-Ereignisse auf uns zukommen.

Woran hapert es vor allem?

Wir müssen uns nicht nur fragen, ob es genügend Fachkräfte für die Zukunft gibt, es geht auch um die Frage, wie wir die Ressourcen sinnvoll einsetzen – etwa mit Blick auf die in Hessen vorgeschriebene Fachkräftequote von mindestens 50 Prozent. Wir müssen auch den Bereich der Hilfskräfte weiterentwickeln, was die Anforderungen angeht und neue Konzepte für einjährige Ausbildungssysteme erarbeiten. Die neue generalisierte Pflege-Ausbildung kann neben der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Entlohnung eine große Chance für mehr Attraktivität des Pflegeberufes bieten. Insgesamt ist dies eine gesellschaftliche Aufgabe. Sie darf nicht zu einer Vorteilsnahme des Krankenhaussektors führen, um gezielt nur den dortigen Fachkräftebedarf zu decken. Sonst bleibt die Altenhilfe auf der Strecke.

Sie fordern auch ein besseres Schnittstellen-Management zwischen den ambulanten und den stationären Sektoren.

Ja, zwischen Zuhause, Klinik und Altenheim gehen viele Informationen verloren. In Darmstadt haben wir ein von der Stadt finanziertes Projekt angeschoben, das zu einer verbesserten Verzahnung führen soll, damit die Versorgung der Menschen auch über Schnittstellen hinweg bedarfsgerecht gesichert ist.

Wenn Sie sich die Strukturen in Darmstadt ansehen, was braucht es hier vor Ort?

Es braucht zum Beispiel mehr organisierte und geförderte Nachbarschaftshilfe, professionelle Formen von Unterstützung für Initiativen und für die vielen pflegenden Angehörigen. Präventive Angebote zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit sind unabdingbar, um die Menschen in Darmstadt dabei zu unterstützen, möglichst lange eigenständig und selbstverantwortlich leben zu können. In Wixhausen machen wir mit dem neuen Angebot der Gemeindeschwester und Sozialberaterin seit 2020 sehr gute Erfahrungen. Das brauchen wir in allen Stadtteilen. Und wir benötigen auch weiterhin eine zielgerichtete Weiterentwicklung und Umsetzung der Pflegebedarfsplanung in Darmstadt, um strukturell voranzukommen.

Das Interview führte Sabine Schiner