Mit der Hand zu schreiben bereitet vielen Kindern Probleme. Die Lösung liegt nicht in neuen Schriften, sondern in der Bewegungsförderung, sagen Forscher. Wissenschaftliche...
DARMSTADT. Komplizierte Sache, so ein S. Um den Buchstaben zu begreifen, nehmen die Erstklässler der Bessunger Schule schon mal einen Strang bunte Knete zwischen die Finger und formen daraus eine Schlangenlinie. Lehrerin Marlene Reimann sieht's mit Freude: Wer bei ihr Schreiben lernt, darf sich auf alle möglichen Arten ans Alphabet ranpirschen.
Reimann lässt die Schüler mit den Händen Linien in die Luft zeichnen und auf den Rücken des Vordermanns, sie lässt Buchstaben auf dem Tablet-PC üben und mit Stiften auf Papier. "Kinder sollen erst mal Freude am Schreiben bekommen", sagt Reimann. "Wenn sie nur streng nach der Fibel lernen, geht doch der Spaß gleich verloren." Ihr "gemäßigt offener Ansatz" ist einer von vielen, nach denen die Jüngsten im Lande lernen. Eine Vielfalt, die immer wieder für erbitterten Streit sorgt. Vielleicht unnötigen: Schreibforscher liefern jetzt Erkenntnisse und Ideen, die ganz anders ansetzen - nicht erst beim ersten Buchstaben.
Das Ziel ist unstrittig: Ebenso flüssig wie "normgerecht und korrekt" sollen Hessens Schüler am Ende der Grundschule schreiben können. So formuliert es Kultusminister Alexander Lorz. Aber: "Der Weg dahin", heißt es auf Anfrage beim Ministerium, "ist weiterhin den Lehrern selbst überlassen."
Den Lehrkräften stehen derzeit nicht weniger als vier Alphabete zur Auswahl. Viele Grundschullehrer verwenden für den Start die "Grundschrift": eine einfache, den Druckbuchstaben nahe Schriftart, die seit Anfang der 2010er Jahre Verbreitung findet. Um die Linien, Häkchen und Schnörkel tobt seither eine Art Glaubenskrieg. Wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit der diversen Schriften und Methoden gibt es kaum. Vieles wird nach Bauchgefühl entschieden - bei den Eltern, Lehrern wie Politikern.
So sollen etwa 30 Prozent der Mädchen und 50 Prozent der Jungen am Ende der Grundschule Schwierigkeiten mit dem Schreiben per Hand haben. Das ergab eine Lehrer-Umfrage. Mehr als 1,2 Millionen deutsche Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren betrifft das. Die Debatte über die Ursachen und die richtige Schrift führt aber in die Irre, sagen einige Forscher. Es gehe nicht um die Alphabete, sondern um die fließende Bewegung - das behaupten Ergonomie-Experten, die ihre Thesen bei einer Fachtagung für Schreibmotorik in Darmstadt zu Gehör brachten.
Für das schnelle, flüssige Schreiben, wie es sich das Kultusministerium wünscht, "sind die gebräuchlichen Alphabete zu kompliziert, das können wir mit unseren Instrumenten messen", sagt Christian Marquardt. Der Forscher ist einer der Wissenschaftler, die am Schreibmotorik-Institut im fränkischen Heroldsberg neue Wege durch den Didaktik-Dschungel schlagen wollen. Gut fundiert und interdisziplinär - der frischeste Ansatz zum Thema. Seine Erkenntnis: "Kinder könnten dreimal so schnell schreiben, aber das wird aktiv verhindert, weil es erstmal nur um die Form geht."
Immer und immer wieder die gleichen Linien nachzuspuren, das koste viel Zeit und Energie, sagen die Motoriker. "Viele Lehrer glauben, dass Motorik durch möglichst viele Wiederholungen entsteht - das ist vom Ansatz her aber falsch", sagt der Wissenschaftler. Die Konsequenzen sehe man spätestens ab der fünften Klasse: "Kinder schreiben zu langsam für das, was von ihnen gefordert wird und ihre Schrift wird unleserlich." Was nicht die Schuld der Schüler sei. Der Ansatz der Motoriker: eine frühe Förderung der Fingerfertigkeit. "Es geht nicht um Genauigkeit und Perfektion", sagt Marquardt, "es geht darum, einen bestimmten Bewegungsrhythmus zu entwickeln - wie beim Fahrradfahren: Da bewege ich mich auch nicht am Anfang in Zeitlupe auf einer geraden Linie, sondern probiere erstmal das Gleichgewicht zu halten."
Auch mit dem Stift sollen die Kinder erst einmal schwungvoll üben, ohne sich an eng begrenzte Linien zu halten. Sie sollen Schreibwerkzeuge ausprobieren, auf unterschiedlichen Oberflächen üben. Sinnvoll sei dabei "ein bewusstes Skalieren von Buchstaben-Formen". Kreise, Striche, Girlanden "sollen automatisiert und der Transfer der erworbenen Kompetenzen auf das Schreiben von Buchstaben, Wörtern und Sätzen gefördert werden". Dabei müssten "individueller Rhythmus, Tempo und Schreibdruck" beobachtet werden. "Ungünstige, hemmende Haltungen" sollen behutsam, aber konsequent korrigiert werden - nicht erst im Schulalter.
Denn den Drang, die ersten Buchstaben aufs Papier zu zaubern, spüren Kinder schon früh. Genau dann gelte es bereits die Feinmotorik zu fördern, sagen die Forscher. Denn: "Kinder haben heute weniger Spielzeug, mit dem die Hände trainiert werden". Die Voraussetzung für das Schreiben würden damit schwieriger.
Wobei Smartphone, Tablet & Co. von den Motorik-Anhängern nicht verteufelt werden. Zwar tobt auch da ein Grundsatz-Streit zwischen Pädagogen, Eltern und Politikern. Erst recht, seit die finnische Regierung 2016 vorpreschte, um die Schreibschrift in der Schule ganz abzuschaffen. Das "flüssige Tippen auf der Tastatur", so Bildungsministerin Minna Harmanen, sei heutzutage die wichtigere Kompetenz. Das sehen Forscher wie Marquardt anders. "Tippen hat mit den motorischen Fähigkeiten des Handschreibens nichts zu tun." Aber: Tablets, Apps und elektronische Stifte gehören für ihn ebenso in den Werkzeugkasten der Schüler wie Buntstift und Papier. Die Linie des Instituts: "Bildung benötigt das Handschreiben im sinnvollen digitalen Kontext."
Vor allem: Die Beweglichkeit in den Fingern führt auch zu mehr Beweglichkeit im Kopf, glauben die Forscher. Wer besser schreiben kann, der tut sich auch mit dem Lernen insgesamt leichter - eine häufig von Lehrern gemachte Beobachtung. Gründe genug für das Bundesbildungsministerium, die Motoriker zu unterstützen. Staatssekretär Stefan Müller gibt ihnen für ihre "Aktion Handschreiben 2020" politische Rückendeckung: "Die Grundkompetenz des Handschreibens bleibt auch im digitalen Zeitalter ein wichtiges Bildungsthema."
Freilich müssen dafür nicht nur viele Lehrer und Schüler beweglicher werden. Auch die Eltern dürften gern mehr Feingefühl fürs Thema entwickeln, sagen die Motorik-Fachleute. Wenn die Erwachsenen im Alltag selbst nur noch tippen, dürften sie kaum als Vorbild taugen. Öfter mal ein Buch in die Hand zu nehmen könnte ein Anfang sein. Lehrerin Reimann jedenfalls weiß: "Kindern, denen öfter vorgelesen wird, fällt auch das Schreibenlernen leichter."