Die VHS Darmstadt wurde 1919 gegründet und war bundesweit eine der ersten ihrer Art. Ihr pädagogisches Konzept war stets Spiegel der Gesellschaft.
Von Kerstin Schumacher
Lokalredakteurin Darmstadt
1983 stehen die Menschen Schlange, um sich bei der VHS für einen Kurs einzuschreiben.
(Foto: Stadtarchiv)
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DARMSTADT - Wenn‘s ums Thema Erwachsenenbildung geht, landet man gedanklich schnell bei der Volkshochschule (VHS). Von Sprachkursen über Angebote in Sachen Gesundheit bis hin zu eher außergewöhnlichen Dingen wie „Wildgans-Qigong“, die Stadtbewohner können sich heute zu fast jedem Thema weiterbilden. In diesem Jahr feiert die VHS Darmstadt 100-jähriges Bestehen. „Damit gehört sie zu den ältesten Volkshochschulen in ganz Deutschland“, sagt Leiterin Dr. Monika Krutsch.
Das Thema Erwachsenenbildung an sich geht in der Geschichte aber weiter zurück. „Schon 1781 wurde in Darmstadt die erste öffentliche Leihbibliothek eröffnet“, weiß Peter Engels, der Leiter des Stadtarchivs. Wegen der hohen Leihgebühren war das Angebot allerdings nur für die bürgerliche und adlige Oberschicht erschwinglich. An die Bildung von unteren Schichten der Bevölkerung dachte zunächst niemand, das Konzept der „Volkshochschule“, also einer Schule fürs Volk, kam tatsächlich erst 1919 auf. „Der Erste Weltkrieg und vor allem seine Folgen für die deutsche Gesellschaft erforderten eine grundsätzliche Neuausrichtung des Bildungswesens“, erklärt Engels. Nach dem Zusammenbruch des alten Systems und der folgenden Demokratisierung sehnten sich die Menschen nach geistiger Orientierung. „Es galt, den mündigen Bürger zu erziehen, der die Geschicke des Staates mitgestalten sollte“ – Volkshochschule als demokratisches Gegenstück zur akademischen Hochschule.
In Darmstadt gab es schon im Frühjahr 1919 erste Vorbereitungen zur Gründung einer Volkshochschule. Im Juli bildete sich dazu ein Arbeiterausschuss, am 2. November 1919 wurde die Einrichtung im Mathildenhöhsaal an der Dieburger Straße feierlich eröffnet. Zu Beginn basierte die Arbeit der VHS im Wesentlichen auf dem Engagement einiger Freiwilliger. „Auf einen Aufruf in der Tageszeitung, in dem Lehrpersonal gesucht wurde, hatten sich 88 Lehrer, Architekten, Pfarrer, Ärzte, Schriftsteller, auch einige Professoren der Technischen Hochschule gemeldet“, sagt Krutsch. Sie boten Themen wie „Goethes Faust im Zusammenhang mit seiner Weltanschauung“ sowie Kurse zum Gebrauch des Mikroskops oder zu „Mutter und Kind im Recht“.
1983 stehen die Menschen Schlange, um sich bei der VHS für einen Kurs einzuschreiben. Foto: Stadtarchiv
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Nach anfänglichen Problemen hinsichtlich Finanzierung und weiterer Ausrichtung etablierte sich die VHS bald. „Im ersten Trimester 1922 besuchten 2096 Teilnehmer 68 Kurse“, sagt Engels, davon mehr als 40 Prozent Arbeiter, zwölf Prozent Hausfrauen und Haustöchter. Der Rest verteilte sich auf Angestellte, Beamte oder Studenten. (Zum Vergleich: 2018 haben 10 540 Teilnehmer 980 Kurse besucht.)
In den folgenden Jahren war das Angebot der VHS durch den jeweiligen Zeitgeist geprägt. Doch stets stand eine Frage im Raum: Soll die VHS berufsbezogene und an praktischen Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte Kurse ins Programm heben oder eher Themen zur persönlichen Weiterentwicklung, die keinen konkreten Nutzen aufweisen? „Im Verlauf der Geschichte gab es immer wieder verschiedene Schwerpunkte“, sagt Monika Krutsch. Geprägt wurden die Volkshochschulen von den jeweiligen politischen Umständen und Leitungen.
DREI VORTRÄGE ZUM GEBURTSTAG
Zur Feier des Jubiläums bietet die Volkshochschule eine dreiteilige Vortragsreihe unter dem Titel „Demokratie braucht Bildung“ an. Den Auftakt macht Peter Engels. Der Leiter des Stadtarchivs spricht am Donnerstag, 4. April, über die Anfänge der Einrichtung in Darmstadt, von der Novemberrevolution 1919 bis zur NS-Gleichschaltung 1935. Die Veranstaltung ist kostenlos und beginnt um 19 Uhr im Justus-Liebig-Haus.
Wolfgang Hasibether referiert am Montag, 29. April, über das Thema „Kultur für alle – Wilhelm Leuschner, die Idee de Kulturstaats und die Volkshochschule“. Beginn ist um 19 Uhr im Justus-Liebig-Haus, der Eintritt ist frei.
Gleiches gilt für den Vortrag von Julika Bürgin, die am Donnerstag, 14. Mai, ebenfalls ab 19 Uhr im Justus-Liebig-Haus spricht. Thema der Professorin mit Schwerpunkt Bildung an der Hochschule Darmstadt: „Welche politische Bildung für welche Demokratie?“ (schu)
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 etwa wurde die Volkshochschule wie alle kulturell tätigen Vereine und Institute den Zielen der NS-Ideologie unterworfen. 1935 wurde die VHS unter Umbenennung in „Volksbildungsstätte Darmstadt“ dem von den Nazis neu gegründeten Deutschen Volksbildungswerk unterstellt, wobei der Trägerverein Volkshochschule Darmstadt offiziell bis 1938 bestehen blieb. „Das Programm war der NS-Ideologie angepasst, so gab es Vorträge zu den Themen Vererbungslehre oder sippenkundliche Vorträge mit Anleitung zum Anfertigen von Ahnentafeln“, sagt Engels.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte die VHS 1946 in kommunale Trägerschaft. Die Einschreibegebühr damals: 4 Mark. Aus dieser Zeit sind noch Programmhefte vorhanden. „Schon damals konnte man viele Sprachen lernen, aber auch Buchführung oder Stenografie“, so Krutsch. In den 60er und 70er Jahren wendete sich das Kursangebot hin zu mehr politischer Bildung und war wieder mehr berufs- und fachbezogen. Zudem wurde Film- und Fernseharbeit ins Kursprogramm aufgenommen. „Das hat die damalige Leiterin Ingeborg Horn-Staiger vorangetrieben, die der VHS von 1972 bis 1990 vorstand.“ In den 80ern standen der Ausbau der Teilnehmerberatung und ein erweitertes Sprachangebot im Zentrum.
Unter ihrem Nachfolger Walter Schwebel waren unter anderem EDV-Kurse stark nachgefragt. Schwebel war ab 1972 pädagogischer Mitarbeiter der Volkshochschule und von 1995 bis 2000 deren Leiter. Kenner sagen, er habe die Volkshochschule gelebt und geprägt wie kein Zweiter.
„Heute interessieren sich die Kunden vor allem für die Themen Gesundheit und Ernährung“, so Krutsch. Doch eins habe sich bis heute nicht verändert: Die VHS ist eine Zelle der Demokratie. „Nur wer informiert ist, kann sich eine Meinung bilden, argumentieren und mitgestalten“, erinnert die Leiterin an den noch immer aktuellen Gründungsgedanken der VHS. Zudem böten die Kurse auch Gelegenheit zur persönlichen Entfaltung. „Wir bieten ganzheitliche Bildung und versuchen, den Menschen bei seiner persönlichen Entwicklung zu begleiten.“ Jeder Kursteilnehmer soll seinen persönlichen Horizont erweitern können. „Erwachsenenbildung ist faszinierend, früher wie heute“, schwärmt Krutsch. „Das ist der Moment, in dem ein Erwachsener freiwillig und interessengeleitet lernt.“ Nach wie vor nehmen viele Menschen die VHS als Ort der Bildung an. 2018 wurden 980 Kurse und Vorträge angeboten, 10540 Kunden haben die Angebote genutzt.
Gleichwohl steht die VHS vor Herausforderungen. „Wissen ist heute so leicht zugänglich wie nie“, sagt Krutsch. Die VHS stehe damit in Konkurrenz zu vielen anderen Anbietern. Zudem hat sich die Gesellschaft gewandelt. „Frauen und Mütter arbeiten heute mehr.“ Insgesamt sei die Lebensweise hektischer geworden. „Der Trend geht daher zu kürzeren Wochenend-Seminaren und zu Kursen in attraktiver Umgebung, Kunst-Workshops in richtigen Ateliers zum Beispiel“, erklärt Krutsch. Zukunftssorgen hat sie nicht. „Wir müssen uns davon verabschieden, alle Menschen zu erreichen, aber es gibt genügend Interessenten.“