REINHEIM - Wie viel wiegt ein gutes Jahrhundert in einem Gedächtnis? Die Summe der Erlebnisse, Erfahrungen, Gedanken, die sich zu einem sehr langen Leben addieren? Und welche Filter sorgen für Struktur?
Ilse Mörsch, die heute, 2. März, in Reinheim ihren 102. Geburtstag feiert, ist bis dato jedenfalls offen geblieben für ihre Umgebung. Sie beantwortet die Fragen des Besuchers von der Presse bereitwillig, wenn auch mit einer gewissen Bedächtigkeit. Da ihre Hörfähigkeit inzwischen eingeschränkt ist, dauert es einen Moment, bis die akustische Botschaft des Gegenübers als Frage identifiziert ist, und einen weiteren, bis die Erinnerung abgerufen ist, in der die Antwort liegt.
Wobei die Antworten dann immer auch einen Bezug zur Frage haben. Insofern wirkt Ilse Mörsch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Und wenn es dann doch mal kleine Verständigungsprobleme gibt – sie haben eher etwas mit Hören als mit Begreifen zu tun – springt ihr Sohn Jens ein.
Bei ihm und seiner Frau lebt sie seit zwölf Jahren. „Mein Vater ist bereits 2001 gestorben, meine Mutter hat dann allein in ihrem Haus in Reichelsheim gelebt, bis das nicht mehr ging“, erklärt der Sohn.
„Ja, ich bin gut unter bei meinen Kindern“, sagt die Mutter, und: „Ich fühle mich wohl in Reinheim“. Sie nimmt auch noch am kommunalen Leben teil, besucht gerne den Altenkreis der evangelischen Kirchengemeinde, wo sie inzwischen die Älteste ist. „Ich kann noch gut sehen“, versichert sie, und so liest sie zur Unterhaltung Bücher, etwa von Charlotte Link, oder schaut Fernsehen. „Aber bei Krimis schalte ich immer ab, weil mich das zu sehr aufregt.“
Reinheim ist wohl ihre letzte Station einer langen Reise durch das Leben, die fast in Russland begonnen hätte, wo die Familie zur Elite der deutschen Kolonie in Moskau gehörte und der Vater örtlicher Direktor der Farbwerke Höchst war. Doch während die Mutter mit den zwei Söhnen zur Kur an der ostpreußischen Ostsee war, begann der 1.Weltkrieg, und eine Rückkehr nach Moskau schien wenig ratsam. Aufnahme fand die Rumpf-Familie zunächst bei einer Schwägerin in München, die dort als Schauspielerin arbeitete. Dort brachte Ernestine Hohorst am 2. März 1915 ihre Tochter Ilse zur Welt.
Nächste Station: Schweden, das Anwesen eines Schwagers von Ernestine Hohorst, der als Hofjuwelier in Moskau zu den Begüterten zählte. Nach dem 1. Weltkrieg war die Familie in Bad Soden kurz vereint, dann starb der Vater. Die Betreuung der nunmehr vier Kinder – zu den beiden Söhnen und Tochter Ilse hatte Ernestine Hohorst noch eine zweite Tochter geboren – konnte sich die Mutter aber weiterhin mit einer russischen Hausangestellten teilen. „Assane“, sei ihr Rufname gewesen. Russisch war zweite Alltagssprache im Haushalt. „Ich kann russisch“, versichert Ilse Mörsch. Aus den frühen „schwedischen“ Jahren hat sie jedoch keine Sprachkenntnisse mitgenommen.
Die junge Frau arbeitete später als „Fürsorgerin“ – heute würde man „Sozialarbeiterin“ sagen – und lernte dabei ihren Mann Karl kennen, einen Diplom-Landwirt, der in Darmstadt unterrichtete, wo sich die junge Familie denn auch niederließ. Dort erlebte sie den 2. Weltkrieg. 1944 gebar die 29-Jährige Sohn Jens in Bensheim, später zwei weitere Kinder. Auf den Bombenhagel folgte die Evakuierung nach Waldamorbach, dann der Umzug nach Reichelsheim.
Das Erlebnis der beiden Weltkriege und der folgenden Not lässt sie auf die Frage nach ihrem Lieblingsgericht antworten: „Wir waren ja oft froh, wenn es überhaupt was zu essen gab. Ich esse alles.“ Und Sohn Jens ergänzt lächelnd: „Besonders gerne Torte, mit möglichst viel Sahne.“ Aber ist so ein hohes Alter für einen Christenmenschen nicht auch ein Gottesgeschenk? Ilse Mörsch, die sich als „gläubig“ bezeichnet, wägt die Antwort eine ganze Weile ab, bis sie sagt: „Ja, das ist ein Geschenk.“