Auch im Zeitalter des Internets behaupten sich die Volkshochschulen. In diesem Jahr werden sie 100 Jahre alt. Doch obwohl sie Bildung für alle bietet, erreicht sie überwiegend Frauen.
Von Marina Speer
Foto: Dirk Zengel
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DARMSTADT-DIEBURG - Matte an Matte reihen sich die Kursteilnehmer nebeneinander. Alle Augen sind auf Brigitte Ebeling gerichtet, die ihr rosa Theraband um ihren rechten Fuß legt und diesen auf dem Rücken liegend in Richtung Decke streckt. „Jetzt die Fußspitze gegen den Widerstand des Bandes nach oben drücken“, erklärt die Kursleiterin und macht die Bewegung vor. Zwölf Teilnehmer sind heute zum Kurs der Volkshochschule (VHS) des Kreises – präventive Ausgleichsgymnastik – in den Trainingsraum am Schuldorf Bergstraße gekommen. Jedes Jahr erreicht die VHS Darmstadt-Dieburg rund 10 000 Erwachsene in 1000 Kursen. Über 40 Prozent von ihnen belegen einen Sprachkurs, weitere 30 Prozent einen Gesundheitskurs. In den vergangenen zehn Jahren ist die Teilnehmerzahl lediglich um zehn Prozent gesunken – trotz einer immer größeren Zahl an Bildungsangeboten im Internet. In diesem Jahr werden die Volkshochschulen 100 Jahre alt – Zeit für eine Bestandsaufnahme.
Die meisten Volkshochschulen wurden nach Ende des Ersten Weltkriegs gegründet. Gesetzlich verankert wurden sie mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Durch die Volkshochschulen sollten auch die Menschen Zugang zu Bildung bekommen, die zuvor davon ausgeschlossen waren. Die Bürger sollten in der neuen Demokratie lernen, sich kritisch eine Meinung zu bilden. Mittlerweile zählt der Deutsche Volkshochschulverband bundesweit 899 Volkshochschulen. Das breite Kursangebot der Volkshochschule Darmstadt-Dieburg gehört zum Grundkonzept: Sprache, Gesellschaft, Kultur, Gesundheit, berufliche Qualifizierung und Grundbildung. Finanziert wird die VHS zu jeweils einem Drittel aus Teilnahmegebühren, Landes- und Bundesmitteln sowie vom Landkreis. Auch nach 100 Jahren sei die Volkshochschule noch eine wichtige Institution, sagt Anja Simon, die Leiterin der Kreisvolkshochschule.
„Durch den schnellen Wandel vergrößert sich die Bildungsschere immer weiter“, sagt sie. Die VHS mit ihrer niedrigen Hemmschwelle könne helfen, die Lücke zu schließen. „Bei uns braucht niemand einen bestimmten Schulabschluss oder Vorkenntnisse, um die Kurse zu besuchen und sich weiterzubilden.“ Eine einfache Anmeldung reicht. Außerdem fänden die Kurse im gesamten Landkreis statt, sodass auch weniger mobile Menschen kommen können.
Hinter dem leichten Rückgang an Kursteilnehmern vermutet Simon auch gar nicht unbedingt das Internet. „Wir haben in dem Feld der Erwachsenenbildung zahlreiche Mitbewerber und auch Betriebe legen in Zeiten von Fachkräftemangel immer mehr Wert auf die interne Weiterbildung ihrer Mitarbeiter.“ Auch in diesem Umfeld schaffe es die VHS, sich zu behaupten.
Doch die Zahlen zeigen auch: Obwohl die VHS ein Bildungsangebot für alle bietet, nutzen vor allem Frauen die Kurse. Vergangenes Jahr waren es 73 Prozent Frauen und nur 27 Prozent Männer. Verändert hat sich das in den vergangenen Jahren kaum. Im Bereich Gesundheit sind es sogar noch weniger: 18 Prozent. Besser sieht es im Bereich Grundbildung aus, unter den beispielsweise Alphabetisierungs- oder Rechenkurse fallen; Männer sind dort mit 56 Prozent sogar in der Überzahl.
Warum die VHS vor allem eine ganz bestimmte Zielgruppe erreicht, kann auch Leiterin Anja Simon nicht zu hundert Prozent sagen, „aber ich habe mehrere Thesen“: Zunächst seien auch die Kursleiter zu rund 75 Prozent weiblich. Das könne dazu führen, dass sich vor allem Frauen angesprochen fühlen. Deshalb will Simon in Zukunft gezielt männliche Kursleiter anwerben. Außerdem sollen noch mehr Kurse explizit für Männer angeboten und auch die Werbung mehr auf spezielle Zielgruppen ausgerichtet werden. Seit einigen Jahren gibt es bereits Hatha-Yoga oder Wirbelsäulentraining nur für Männer – „die kommen gut an“, sagt die Leiterin. Dazu kommt, dass die VHS vor allem Menschen über 50 Jahre erreicht. Junge Menschen unter 35 dagegen nur wenig. „Im Zusammenhang mit der ländlichen Struktur könnte das darauf hinweisen, dass diese Frauen öfter in Teilzeit arbeiten und deshalb mehr Zeit für einen Kurs haben“, vermutet Simon. Ein Indiz dafür bieten die Kursteilnehmerzahlen im Bereich Sprachen: Bei den 18 bis unter 25-Jährigen sind 41 Prozent der Teilnehmer männlich; genau zehn Prozent mehr als im Gesamtdurchschnitt in diesem Bereich. „Doch das sind alles nur Thesen, die wir testen und dann darauf reagieren müssen“, stellt Simon klar.
Ruth Günther ist die typische Kursteilnehmerin. Sie ist 54 Jahre alt, belegt einen Englischsprachkurs, ist eine Frau. Auch sie arbeitet in Teilzeit, Schichtdienst. „Mein Mann und ich haben vor einigen Jahren unsere Begeisterung für Schottland entdeckt“, erzählt sie. Um ihr Schulenglisch aufzufrischen habe sie vor mehr als fünf Jahren einen Sprachkurs belegt – ihr Mann wollte dagegen nicht. Die Kurse der VHS hätten sie überzeugt: „Die Kursleiter sind total kompetent und auch menschlich super.“ Inzwischen wurden die Kurse zu ihrem Hobby. Warum nur sie und nicht ihr Mann das Kursangebot nutze, könne sie sich nur damit erklären, dass sie eben einfach sprachenaffiner sei.
Doch es gibt sie auch: Männer, die bei der VHS Kurse besuchen, sogar im Bereich Gesundheit. Seit zwei Jahren besucht Uwe Roßkopf aus Jugenheim den Ausgleichsgymnastik-Kurs von Brigitte Ebeling. Er ist einer von nur zwei Männern in der Gruppe. „Meine Frau hat mir davon vorgeschwärmt“, erzählt der 58-Jährige. Von selbst wäre er nie darauf gekommen, einen solchen Kurs zu besuchen. „Aber die Gruppe ist wirklich super, es macht Spaß und ich merke, wie es meinem Körper gut tut.“ Und es gibt tatsächlich noch mehr solcher Männer.
15 Plätze gibt es in dem Kurs „Wirbelsäulentraining für den Mann“ – und jeder davon ist belegt. „Wir sind seit etlichen Jahren die gleiche Gruppe“, sagt Kursleiterin Ebeling. Seit rund zehn Jahren ist auch Kay Otte ein Teil davon. „Das ist einfach eine lustige Truppe“, sagt der 53-Jährige. „Es hat mich angesprochen, dass der Kurs explizit für Männer ist.“ Und auch die Abwechslung sei super; jedes Mal gebe es andere Übungen, würden andere Muskeln trainiert.
Wer einmal in dem Kurs ist, der bleibt. Drei der Männergruppe sind bereits seit gut zehn Jahren mit dabei. Einige ihrer abwesenden Kollegen sogar noch länger. Die Männer haben zwei Theorien, weshalb nur wenige Männer das Kursangebot nutzen. „Männer brauchen oft ein konkretes Ziel vor Augen“, vermutet Otte. Frauen würden dagegen eher einfach mal etwas ausprobieren.
Um das zu ändern, hofft Leiterin Anja Simon auch auf Mundpropaganda. „Unsere zufriedenen Kursteilnehmer sind für uns die wichtigsten Multiplikatoren“, sagt Simon. Das gelte auch für die Männer, die bereits in Kursen der VHS eine Sprache lernen oder eben einen Gymnastikkurs besuchen.