Mittwoch,
30.03.2016 - 00:00
3 min
Sühnekreuz ersetzt die Blutrache

Von Peter Keller
Lokalredakteur Darmstadt-Dieburg

Die Erinnerung an das Nieder-Klinger Steinkreuz hat Georg Weiß aufrecht erhalten. Er sorgte für einen Ersatz, als das Original 1996 verschwand. Foto: Guido Schiek ( Foto: Guido Schiek)
DARMSTADT-DIEBURG - Kulturen entstehen, Kulturen vergehen. Im Idealfall bleiben Urkunden zurück, die bezeugen, wie Menschen einst gelebt haben. Wo Aufzeichnungen fehlen, bleiben Steine als Zeugen der Geschichte. In einer Serie stellt das ECHO Fundstücke vor – und was sie erzählen.
Seine 86 Jahre sind Georg Weiß nicht anzusehen. Noch immer strotzt der Nieder-Klinger vor Tatkraft. Als Polsterer und Sattler hat er seinen Lebensunterhalt verdient, war aber weitaus breiter aufgestellt. Wie ein Blick aufs in Eigenleistung erbaute Eigenheim zeigt. Auch wäre er fast Steinmetz geworden. Das hatte folgende Bewandtnis: Das Steinkreuz, das jahrhundertelang an der Straße in Richtung Lengfeld stand, war verschwunden. Eigentlich ankerte es tief im Boden. Aber nachdem es bei der Feldbearbeitung von einem Trecker umgefahren und nur provisorisch wieder befestigt worden war, wurde es zur leichten Beute eines Diebes. Das geschah im Jahr 1996.
Ersatz findet sich in Wertheim
„Es hat mir einfach keine Ruhe gelassen, dass das Kreuz verschwunden war“, sagt der Rentner. Rastlos suchte er nach einem Ersatz. Letztlich stieß er in Wertheim auf einen Grabstein, der sich umarbeiten ließ. Zusammen mit dem Heringer Schornsteinfeger Wilhelm Kohlbacher brachte Weiß das Mahnmal vor rund 16 Jahren an der scharfen Kurve kurz hinter dem Ortsausgang in die Erde. Dort steht es seither und gemahnt an vergangene Zeiten.
EIN KREUZ STEHT AUCH IN EPPERTSHAUSEN
Das wohl einzige Kreuz in Hessen, das zweifelsfrei einem bestimmten Sühnevertrag zugeordnet werden kann, existiert in der Eppertshäuser Valentinskapelle. Der Vertrag vom 16. November 1438, der vor dem Ritter Groschlag und den Angehörigen des Getöteten geschlossen wurde, enthält die Sühne- und Bußvereinbarungen. Leonhart Richarts bekundet darin, dass er Henne Vitter im Zorn erschlagen hat. Er verpflichtet sich zur Wiedergutmachung unter anderem vier Jahre lang jährlich 100 Gulden zu zahlen für die im Bau befindliche Kapelle in Eppertshausen. Diese wurde 1440 geweiht. Das Kreuz ist in der Nordwand des Gotteshauses eingemauert.
„An was das Kreuz erinnert, weiß man im Grunde nicht genau“, sagt der 86-Jährige. Ehemals sollen es sogar drei Kreuze gewesen sein, die sich zu einer Gruppe formierten. Zwei davon sind aber im Jahr 1945 unbemerkt zerstört worden und verschwanden von der Bildfläche, wie einem Aufsatz von Gerd Grein im Nieder-Klinger Heimatbuch zu entnehmen ist.
Auch wenn man nichts Genaues weiß, ranken sich um die Steinkreuze zwei Sagen. Die eine besagt, dass bei einer Belagerung der Veste Otzberg drei Soldaten der Angreifer an der Stelle saßen und Klöße aßen. Dabei seien sie von der Wachmannschaft auf der Burg beobachtet worden. Die Ritter hätten daraufhin, so die Mär, eine Granate auf den Weg geschickt, welche dem Leben der Krieger ein jähes Ende bereitete. Zur Erinnerung seien die drei Kreuze gesetzt worden. Auf einem davon soll ein Löffel und ein Kloß zu sehen gewesen sein.
Die andere Geschichte ist nicht weniger martialisch. Nach ihr sollen dereinst drei Edeldamen mit einer Kutsche von der Veste aus hinab in Richtung Nieder-Klingen gefahren sein. An der Wegbiegung sollen sie von feindlichen Soldaten überfallen und getötet worden sein. Ein Menschenleben war im Mittelalter nicht viel wert.
Mögen die Geschichten auch kriegerisch geprägt sein, es handelt sich bei den Kreuzen mitnichten um Kriegerdenkmale. Vielmehr sind sich die Fachleute einig, dass es Sühnekreuze sind – und damit mittelalterliche Rechtsdenkmäler. Sie wurden in der Zeit zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert häufig gesetzt. Im deutschen Sprachraum existieren noch rund 6000 Exemplare, heißt es dazu in den Nieder-Klinger Aufzeichnungen.
Die Sühnekreuze erfüllten im Mittelalter einen zivilisatorischen Zweck. Durch die Zeichen konnte nach einem Mord oder Totschlag die damals noch übliche Blutrache abgewendet werden. Im Detail verpflichtete sich dabei der Täter zu einer Wiedergutmachung. Dazu gehörten Geldzahlungen, Wallfahrten, das Bestellen von Gottesdiensten und das Aufstellen von Sühnekreuzen. Mit dem Inkrafttreten der „Peinlichen Hals- und Gerichtsordnung“ (sie heißt tatsächlich so) durch Kaiser Karl V. im Jahr 1532 wurden andere Strafmethoden eingeführt und das Ende der Sühneverträge eingeläutet.