Früher war die Weschnitz mit ihrem Hochwasser Quell allen Übels. Jetzt wird sie aufwendig renaturiert.
Von Christian Knatz
Ulrich Androsch vom Gewässerverband auf einem Damm der Neuen Weschnitz bei Lorsch. Foto: Sascha Lotz
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BERGSTRASSE - Die Freude am Fluss ging den Menschen früher ab. Fassungslos würden die Anrainer der Weschnitz von einst sehen, wie das 60 Kilometer lange Fließgewässer derzeit renaturiert wird, wie es als optische Bereicherung und Lebensraum angesehen wird. Über Jahrhunderte war die Weschnitz Quell allen Übels, von harter Arbeit und Leid. Ein Ingenieur drückte sich 1782 in einer Denkschrift so aus: "Dieser Fluss ist vielmehr als ein allgemeiner Feind zu betrachten."
Das sieht Ulrich Androsch naturgemäß anders. In einem Satz fasst der Geschäftsführer des Gewässerverbands Bergstraße die gewandelte Einstellung zusammen: "Unsere Väter haben die Flüsse gerade gemacht, wir machen sie wieder krumm." Doch die Aufgabe des Verbands, dem alle Anliegerkommunen im Kreis Bergstraße angehören, reicht über die Flusskrümmung hinaus. Androsch und seine Leute sind mit dem großen Thema befasst, das die Weschnitz und ihre Zuflüsse seit jeher zur Geißel der Menschheit machte: Hochwasser.
In einem Gutachten aus dem Jahr 1780 heißt es: "Die Weschnitzbach ist der alleinige Weg, durch welchen das in dem Amt Starkenburg und in einem Teil des Amts Gernsheim sich sammelnde Wasser abgeführt und in den Rhein geleitet werden kann." Mit fatalen Folgen. Immer wieder kam es am Unterlauf des bei Hammelbach im Odenwald entsprungenen Flüsschens zu katastrophalen Überschwemmungen. Betroffen waren auch Siedlungen, die abseits des Wasserlaufs liegen, etwa Lorsch und Bürstadt.
Früh schützten sich die Menschen durch Dämme und Umleitungen, doch mit dem Bau war die Arbeit nicht getan. Zur Unterhaltung, zum sogenannten Fegen der Weschnitz und des angeschlossenen Grabensystems, griffen die Landesherrn - erst Kurpfalz, dann Hessen-Darmstadt - auf die Untertanen zurück. Sie mussten, am besten jährlich, Deiche reparieren, Unrat aus dem Wasser holen sowie Tiefe und Breite des Laufs erhalten.
Kriminelle Energie beim Durchstich von Deichen
In der Theorie machbar, zumal seit der frühen Neuzeit Bachmeister und -knechte bestallt waren, die sich um die Umsetzung von Bachordnungen kümmerten. Rechnerisch sei jedem Frondienstleister eine Strecke von 31,5 Metern zugewiesen, bemerkte ein Ingenieur namens Eickmeyer Ende des 18. Jahrhunderts. Damit könne die Fronarbeit "von einem Mann in drei Tagen bequem erledigt werden". Markiert wurden die Abschnitte durch Fronsteine, von denen drei heute noch in der Nähe des Gewässerverbands-Sitzes bei Lorsch stehen.
Funktioniert hat das System fast nie. Wegen eines Krieges, aus Bequemlichkeit oder Mangel an Männern unterblieb die Unterhaltung der Weschnitz oft für lange Zeit, wie Heimatforscher Ferdinand Koob 1956 im Büchlein "Die Weschnitz und ihre Probleme in den vergangenen Jahrhunderten" darlegte. Präzise formulierte er, wie Eigennutz über Gemeinsinn triumphierte: "Jede Gemeinde versucht, ihr Wasser loszuwerden, aber keine möchte es aufnehmen." Das geschah zum Teil mit krimineller Energie, indem "Durchstiche" der Dämme vorgenommen wurden, welche die Fluten auf das Gebiet des Nachbarn leiteten. Der Streit ums Wasser führte 1817 zu einem Schusswechsel zwischen Heppenheimern und Laudenbachern; 1709 fluteten Rodauer Schwanheimer Gebiet. "Kommunen im Krieg: So war das früher", sagt Ulrich Androsch. "Einen Deich aufstechen galt als immer noch besser, als selbst abzusaufen." Damals wie heute sei das als schwere Straftat zu bewerten, fügt der Fachmann hinzu, dessen Verband aber auch an gute Traditionen anknüpfen kann. So hat sich die gemeinsame Zuständigkeit der Gemeinden im Prinzip ebenso erhalten wie die Möglichkeit, den Frondienst abzuwälzen. "Man konnte sich loskaufen", sagt der Lorscher Heimatforscher Michael Fettel. Zum Beispiel zahlte Fürth Anfang des 19. Jahrhunderts mehr als 60 Gulden an Lorsch und Klein-Hausen für die Pflege der Weschnitz am Unterlauf.
Statt Untertanen sind heute sechs Mitarbeiter des Gewässerverbands als Flusspfleger tätig. Bis zu 30 Saisonkräfte kommen für die turnusgemäße Deichpflege hinzu. Der wesentliche Fortschritt sei im Einsatz schwerer Maschinen zu sehen, sagt der Geschäftsführer: "Eine halbe Stunde, dann ist ein umgestürzter Baum im Bach weg." Auch die Mahd der Dämme übernehmen statt Sensenmännern Maschinen, wenn nicht gerade eine Schafherde da ist.
Der Verband steht für die friedliche Erfüllung einer Pflichtaufgabe, für welche die Mitglieder bezahlen. Alle früheren Versuche zur Beilegung hatten nicht gefruchtet: weder die Androhung von Strafen bei Deich-Vernachlässigung noch der "Friedensdamm" südwestlich von Heppenheim, der das Überschwemmungsgebiet eingrenzen sollte. In der Gemarkung Heppenheim seien "die traurigen Spuren der Verwüstungen überall sichtlich", notierte ein Regierungsassessor nach einer Flut 1816.
100 Prozent Schutz biete selbst das ab 1958 errichtete System zur Zähmung der Weschnitz nicht, betonen die Experten vom Verband. 2013 wäre um ein Haar ein Teil Wattenheims überflutet worden. Dass die Verwandlung der Weschnitz mittels Dämmen, Wehren und weiteren Bauwerken in ein Kunstprodukt eine Versündigung an der Natur war, weiß man heute. Auch deshalb wurde für 3,2 Millionen Euro auf der Weschnitzinsel ein freier Flusslauf nachempfunden.
Mit der Renaturierung werde zugleich dem Hochwasserschutz gedient, heißt es. "Das natürliche Regiment der Flüsse hilft", sagt Androsch und meint die steigende Fähigkeit zur Speicherung und Abfluss des Wassers. Bis zu 100 Meter Breite brauche die Weschnitz dafür. Mitten im Ort unmöglich, etwa in Einhausen. Dort bekam das Flüsschen wenigstens ein paar Mäander und Hindernisse. Am Ufer gab es ein Fest dazu. Schließlich handelt es sich bei der Weschnitz nicht um einen alten Feind, sondern einen neuen Freund.