„Aus der Geschichte nicht genug gelernt“

Gedenkfeier im Foyer der LFS-Turnhalle, in der vorderen Reihe (Zweiter von links) sitzt Festredner Wolfgang Benz. Foto: Dietmar Funck Foto: Dietmar Funck
BENSHEIM - (tr/ü). Zum 78. Mal jähren sich in diesen Tagen die November-Pogrome des nationalsozialistischen Regimes. 1938 wurde aus der jahrelangen Diskriminierung die systematische Verfolgung der deutschen Juden, die drei Jahre später in den Holocaust mündete. „Ein Wendepunkt für die europäischen Juden“, so Professor Wolfgang Benz bei der Gedenkfeier am Platz der ehemaligen Synagoge in Bensheim. Benz (Jahrgang 1941) ist Historiker der Zeitgeschichte. Als Professor an der Technischen Universität Berlin leitete er bis 2011 das angeschlossene Zentrum für Antisemitismusforschung, dessen Jahrbuch er herausgab.
Es gibt Parallelen zur Gegenwart
In Bensheim skizzierte Benz die chronologischen Ereignisse nach dem 9. und 10. November und zog Parallelen zur Gegenwart: Die pauschale Diskriminierung von Muslimen sei eine Kampfansage an Toleranz und Demokratie, so Benz, der viele Ähnlichkeiten zwischen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit erkennt. Benz setzt beides ausdrücklich nicht gleich, aber er verweist auf die Verwandtschaft in den Methoden der Ausgrenzung. Man stigmatisiere eine Minderheit als gefährlich, indem man ihre vermeintliche Andersartigkeit betont. „Offenbar haben wir aus der Geschichte nicht genug gelernt“, stellte er am Donnerstag in der Anne-Frank-Halle fest. Während antisemitische Äußerungen in der Öffentlichkeit tendenziell tabuisiert seien („sie finden eher im Stillen statt“), seien diskriminierende Aussagen gegenüber Muslimen heute tief in der Gesellschaft verankert.
„Wir erleben gewaltsame Übergriffe auf Asylantenheime, bei denen sich eine subtile Angst vor Überfremdung äußert“, so Professor Benz an dem Ort, wo früher die Bensheimer Synagoge stand. 78 Jahre nach den Pogromen und über 70 Jahre nach Kriegsende sei das aktive Erinnern an die Vergangenheit nach wie vor elementar. „Wir müssen Erinnerung in alltägliche Toleranz und Humanismus übersetzen.“ Wer vergesse oder verdränge, der ebne den Weg für eine Wiederholung der Geschichte, so Benz weiter. Er erinnerte an mehr als 1200 Synagogen und Gebetshäuser, die im Zuge der Nazi-Hetze zerstört oder beschädigt wurden. Die Mär, es habe sich bei den Plünderern und Brandstiftern um auswärtige Gehilfen gehandelt, kommentiert der Historiker als Märchen, mit dem sich ein wenig ruhiger schlafen lässt. „Nein – es waren überall die Nachbarn und Arbeitskollegen, die zu Tätern wurden. Man kannte sich!“ Benz spricht von einem Tag, an dem der bürgerliche Anstand gegenüber einer Minderheit außer Kraft gesetzt war.
FÜR TOLERANZ
„Der Anlass ist nach wie vor aktuell“, kommentierte Bürgermeister Rolf Richter die alljährliche Gedenkfeier in Bensheim. Die Nachrichten von Übergriffen auf Minderheiten häuften sich. Umso mehr müsse sich die Bevölkerung für Toleranz, Mitmenschlichkeit und Gewaltlosigkeit starkmachen. Richter erkennt neue Barrieren in den Köpfen: „Die Grenzen werden wieder aufgebaut.“ Rassismus hätte aber keinen Platz in der Gesellschaft.
Peter E. Kalb von der Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger sagte, dass laut einer aktuellen Bertelsmann-Umfrage 23 Prozent der Deutschen die These unterschreiben, dass Juden zu viel Einfluss in Deutschland hätten. Jeder Fünfte sei latent antisemitisch eingestellt. (tr/ü)
Peter E. Kalb von der Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger sagte, dass laut einer aktuellen Bertelsmann-Umfrage 23 Prozent der Deutschen die These unterschreiben, dass Juden zu viel Einfluss in Deutschland hätten. Jeder Fünfte sei latent antisemitisch eingestellt. (tr/ü)
Die Lüge vom „spontanen Volkszorn“ war in Wahrheit genau organisiert. Als Vorwand diente das Attentat des polnischen Juden Herschel Grynszpan, der am 7. November 1938 in der Deutschen Botschaft den NSDAP-Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath tödlich verletzt hatte. Grynszpans Eltern wurden wie 17 000 andere deutsche Juden gewaltsam nach Polen abgeschoben, wo ihnen aber die Einreise verwehrt blieb. Goebbels verkaufte die Einzeltat als Anschlag des „Weltjudentums“ auf Deutschland. Der Propagandaapparat lief an.
„Viele Juden konnten sich nicht vorstellen, dass es noch schlimmer kommen könnte“, so Wolfgang Benz. Fünf Jahre nach der Machtübernahme hatten sich die Lebensumstände durch eine Vielzahl staatlicher Verordnungen dramatisch verschlechtert.
Im November eskalierte die Lage. „Bis dahin verlief die Diskriminierung unter einem rechtlichen Deckmantel“, betonte der Geschichtsforscher, dessen Fazit lautet: Die Deutschen müssten Erinnerung leben, in dem sie Fremde willkommen heißen, statt sie abzuweisen. „Diese Lehre sollten wir aus der Vergangenheit ziehen.“