Stunden vor dem Lockdown: Theater Lakritz feiert Premiere
Darmstädter Gruppe bringt das Kinderstück "Das wilde Määäh!" heraus: eine Inszenierung voll verspielter Poesie. Wann sie wieder zu sehen ist, bleibt offen.
Von Stefan Benz
Kulturredaktion Darmstadt
Die sich den Wolf tanzt: Ham (Julia Lehn) schwingt die Hufe, Freundin Flöckchen (Nele Hoffmann) schaut staunend zu. Foto: Michéle Honsa
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DARMSTADT - Vor Wölfen im Schafspelz wird ja gewarnt. Ham ist zwar solch ein Exemplar, aber ihn muss man einfach nur liebhaben: ein schwarzes Schaf, das unter die Wölfe gefallen ist, ein wolliger Vegetarier, der nicht zum Beutegreifer taugt, vom räuberischen Rudel aber akzeptiert wird. Vor allem aber hält sich Ham selbst für einen Wolf, bis ihm Selbstzweifel kommen.
Die Österreicherin Vanessa Walder hat ihren ersten Roman um den aus der Art geschlagenen Wolf, der eigentlich ein aus der Herde geworfenes Schaf ist, vor sechs Jahre herausgebracht. Nun hat das Darmstädter Theater Lakritz "Das wilde Määäh!" als Produktion zum 20-jährigen Bestehen erarbeitet und kann mit dem sehenswerten Jubiläumsstück doch nicht auftrumpfen. Neun Stunden vor dem Lockdown war am Sonntag die Premiere im Theater Mollerhaus. Traurig für die Theatermacher, die ums Weihnachtsgeschäft bangen. Tröstlich immerhin für kleine Zuschauer: Wenn sie wieder ins Theater dürfen oder das Theater zu ihnen in die Schule kommen kann, dann wartet ein poetisches Vergnügen auf sie.
Die Fabel des Stücks lässt sich ja vieldeutig lesen als Gleichnis über Familie und Wahlverwandtschaften, über Identität und Stallgeruch. Julia Lehn ist in der Titelrolle mit gebeugter Haltung auf putzige Art plump. Ham mümmelt meistens, schaut aus weit aufgerissenen oft etwas verschreckt und tut nur souverän, als das pummelige Wölfchen dem ranken Reh Flöckchen begegnet: "Jäger und Beute sprechen nicht miteinander", behauptet Ham. Es ist der Beginn einer tierischen Freundschaft.
20 JAHRE KINDERTHEATER IN DARMSTADT
Theater Lakritz wurde im Jahr 2000 gegründet. Mittlerweile sind acht Produktionen im Repertoire, eine davon zusätzlich auch auf Englisch. Die nächste Premiere soll am 28. März 2021 "Zwei für mich, einer für dich" nach den Bilderbuch von Jörg Mühle sein. Die Jubiläumsfeier wurde auf den Sommer 2021 verschoben. Internet: www.theater-lakritz.com. (sb)
Nele Hoffmann schenkt dem naseweisen Hirschlein gezierte Gesten. Sie hat aber auch Fuchs und Wolf drauf, stampft als Onkel Ochse auf, rüttelt dabei mit dem Kopf und verpasst als alter Schäferhund dem entlaufenen Lamm einen Schnüffel-Rüffel.
Die Verkörperung der Tiere ist in der Inszenierung von Björn Lehn so vielfältig fantasievoll wie die Gestaltung des Waldes. Anna Lehn sitzt rechts auf einem Podest und bespielt das Bühnenbild, lässt einen Vogelschwarm an einer Art Angel kreisen, fabriziert Schneegestöber mit dem Föhn und projiziert den Schatten eines Hauses auf die Mondscheibe. Und nebenbei ist sie auch mal ein Bär und ein schnaubender Jungbulle mit Kette um den Hals. Viel mehr als solch ein Requisit braucht es meist nicht, um ein einprägsames Bild entstehen zu lassen. Die Schafe tragen weiße Schals, und als sie hinter der Bühne geschoren werden, fliegt wolliges Gewebe auf die Bühne. So schön schlicht das ist, so wunderbar wandelbar wird dadurch das Spiel.
Auf dem Podest zur Linken greift Wolfgang Vetter in die Tasten seines Keyboard, liefert dazu falsettierenden Gesang, ist mal lauter Kuckuck, mal ein gelangweilter Luchs, der Ham ein Muh für Mäh vormachen will, das Lamm zum Kalb erklärt. Als das Schäfchen dann im Stall landet, merkt es, dass es auch hier irgendwie verkehrt ist und vernimmt den Ruf der Wildnis.
Das ist vergnüglich erzählt und fordert Kinder ab sechs Jahre spielerisch auf zum Philosophieren über Herkunft, Prägung und Erbteil. Regisseur Björn Lehn hat fürs Premierenpublikum zwar keine Novembertermine parat, aber immerhin einen Lesetipp: Schließlich gibt es insgesamt drei Bücher über "Das Wilde Määäh!" Bevor es also irgendwann wieder losgeht mit dem Theater können sich die Kinder ja schon mal einschmökern in Vanessa Walders Tierleben.