Hessisches Staatsballett bringt in Darmstadt „Fake“ auf die Bühne

Fingerzeige für die Jugend: Szene aus „Fake“ mit Enrique Lopez Flores und Aurélie Patriarca. Foto: Regina Brocke

Ums komplizierte Erwachsenwerden geht es in Tim Plegges Aufführung, die nun auch in Darmstadt hatte. Vom Publikum gab es viel Applaus, auch wenn es ein Abend mit Schwächen war.

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DARMSTADT. Das Darmstädter Staatstheater rät seinen Besuchern vor vielen Vorstellungen, sich den „Luxus der Unerreichbarkeit“ zu gönnen. Der Begriff ist aber im Theater falsch. Man will doch erreicht werden. Nicht von Anrufen, klar, aber von der Kunst. Und so geistert einem diese Unerreichbarkeit im Kopf herum, während die Choreografie von Tim Plegge ja auch von ihr handelt. Leider aber erreicht einen „Fake“ tatsächlich zu wenig.

Das Stück des Ballettdirektors „für Jugendliche und ihre Fans“, das Anfang Juni in Wiesbaden Premiere hatte, bekam bei der Darmstädter Erstaufführung herzlichen Applaus im fast ausverkauften, aber weitgehend von Jugendlichen freien Haus. Wie ein herzhaft schmollender Teenager gab beim Verbeugen eine einzige Tänzerin, Ezra Rudakova, nicht das winzigste Lächeln von sich. Vermutlich nicht choreografiert, zeigt es einen emotionalen Widerstandsgeist, der „Fake“ fehlte, obwohl es doch erklärtermaßen um Teenager gehen soll.

Putzig fängt es an, wenn sich auf der Bühne, im dschungelhaft dunkelgrünen Dämmer, ein undefinierter Haufen zu regen beginnt. Die Elemente vereinzeln sich als dicke Würmer, bäumen sich auf, strecken sich in die Höhe, sacken wieder. Schlafsäcke. Manche umarmen sich kurz, armlos, ratlos. Holpern blind. Bei anderen fällt dann schon die Hülle und die Tänzer stehen in Unterwäsche und Socken da. Socken! Dann alle. Das geht zu schnell, aber vielleicht meint die folgende Geschäftigkeit im Unisono-Tanzen Hyperaktivität. Als mit lautem Gespratzel und Geflacker eine LED-Wand erscheint, wähnt man sich in dem Stück von Richard Siegal fürs Ballett 2014. Aber statt „Welle“ signalisiert das Ding eine Art Screening jedes halbnackten Tänzers mit „brain“ und „body“ und Prozentangaben, die mathematisch so sinnlos sind wie die blöde Hirn-Körper-Trennung. Irrwitz der Pubertät oder Technikgläubigkeit, oder was will das sagen?

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Ein Klump Menschen, aus denen ein Arm ragt, der imaginär ein Gruppenfoto schießt, ist die andere und einzige Reminiszenz an die alltäglichen Mobilgeräte. Eine gute Entscheidung: aufs Körperliche zu setzen. Nur bleibt meistens unklar, bei den vielen Tänzen in der Gruppe, brav synchron, aber schnittig-showhaft statt mit Gruppengefühl, oder denen zu zweit oder auch den interessanteren Solos, wen die Tänzer eigentlich darstellen. Oder was.

Wenn fünf Männer mit Spiegelfolientiermasken auf den Köpfen eine selbstbewusst ballettös sich produzierende Frau beobachten, oder wenn Tänzer unförmig oder superförmig ausgestopfte Kostüme tragen oder Perücken ausprobieren oder sich in raschelnde Lamettapuschel kleiden: Dann wird das Rollenausprobieren sichtbar, Wechselhaftigkeit oder der Wunsch sich zu verbergen und damit umso mehr aufzufallen. Aber eine Pina-Bausch-gemäße Traurigkeit unterm scheinbar Albernen fehlt.

Die Stimmung muss der Soundtrack bringen: Max-Richter-Molltöne und Bariton-Sentimentalgesänge von Stephin Merritt mit Ukulele von den Magnetic Fields. Wessen Jugend meint das? Die Jugend des Tanzes hier ist das fröhliche Ballettstückwerk, in dem die Pirouetten locker schleifen, das Rollen am Boden normal ist, in dem die Männergruppe breite Ausfallschritte macht, die Frauen sich spitz in die Höhe recken oder die Bäuche krümmen. Tim Plegge baut auch Fundstücke populärer Youtube-Moves ein, frönt insgesamt dem Showtanz. Das passt zu „Fake“, aber es wirkt eben nicht wie die erträumte oder von Konventionen erzwungene Show. So wie ein elegantes, komplett unerotisches Paar blau beleuchtet wird als Vision vom Coolsein. Dafür unterscheiden sich die anderen Tänze, in denen man Herumsuchen, Sich-selbst-Betasten oder mal übermütiges Protzen erkennt, zu wenig.