Debüt von „Assange – Fragmente einer Unzeit“ per Live-Stream

Dirigentin Corinna Niemeyer und Sopranistin Sarah Maria Sun bei der deutschen Erstaufführung von „Assange – Fragmente einer Unzeit“. Die Komposition ist inspiriert vom Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange, gegen dessen von den USA geforderte Auslieferung dieses Plakat protestiert. Fotos: Barbara Fahle/dpa
© Fotos: Barbara Fahle/dpa

Zu dem Werk angeregt wurde die Komponistin durch den Fall, des Gründers der Enthüllungsplattform Wikileaks, der seit zwei Jahren in einem britischen Gefängnis sitzt.

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FRANKFURT. Ein erstickter Schrei hinter vorgehaltener Hand, ein Röcheln, ein Würgen. Die Sopranistin Sarah Maria Sun presst die Hand vor ihren Mund. Der Todeskampf, der in ihrer Kehle tobt, bleibt nahezu stumm und implodiert nach innen. Mit ihrem 2019 entstandenen Werk „Assange – Fragmente eine Unzeit“ für Frauenstimme, Ensemble und Sampler hat die Komponistin Iris ter Schiphorst ein starkes Plädoyer gegen die Bedrohung individueller Freiheitsrechte geschaffen. Am Sonntag erlebte das Stück – gespielt vom Ensemble Modern unter der Leitung von Corinna Niemeyer – in Frankfurt seine Deutsche Erstaufführung per Live-Stream.

Dirigentin Corinna Niemeyer und Sopranistin Sarah Maria Sun bei der deutschen Erstaufführung von „Assange – Fragmente einer Unzeit“. Die Komposition ist inspiriert vom Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange, gegen dessen von den USA geforderte Auslieferung dieses Plakat protestiert. Fotos: Barbara Fahle/dpa
Dirigentin Corinna Niemeyer und Sopranistin Sarah Maria Sun bei der Deutschen Erstaufführung von „Assange – Fragmente einer Unzeit“. Die Komposition ist inspiriert vom Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange, gegen dessen von den USA geforderte Auslieferung dieses Plakat protestiert. Fotos: Barbara Fahle/dpa

Zu dem Werk angeregt wurde die Komponistin durch dem Fall Julian Assange. Seit zwei Jahren sitzt der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks in einem britischen Gefängnis. Zuvor hatte er sich als politisch Verfolgter sieben Jahre lang in die Londoner Botschaft von Ecuador geflüchtet. Er fürchtet die Auslieferung an die USA, wo ihm wegen angeblichen Geheimnisverrats lebenslange Haft, wenn nicht die Todesstrafe droht. 2010 hatte Wikileaks mit der Veröffentlichung interner Dokumente der US-Streitkräfte mutmaßliche Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan enthüllt. Die Aufführung von Schiporsts knapp 30-minütigem Werk stand im Zentrum einer Matinee, zu der das Ensemble Modern gemeinsam mit der Initiative „Der utopische Raum im globalen Frankfurt“ am Sonntag in den Frankfurter Dachsaal geladen hatte. Die im Livestream übertragene Veranstaltung, die von dem Autor Ilija Trojanow moderiert wurde, widmete sich der Frage, wie es weltweit um die Meinungsfreiheit bestellt sei. Unterstützt wurde die Initiative von der Stiftung Medico international, dem Institut für Sozialforschung und der Frankfurter Rundschau. Die musikalische Darbietung war eingebettet in Videoberichte, Liveschaltungen zu Journalisten und Menschenrechtsaktivisten aus aller Welt sowie einer Podiumsdiskussion zum Thema Pressefreiheit.

Autokraten missbrauchen Coronapandemie als Vorwand

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Barabara Unmüßig von der Heinrich-Böll-Stiftung konstatierte weltweit eine zunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit durch eine stetig wachsende Zahl autokratischer Regime. Häufig würde die Coronapandemie als Vorwand für staatliche Repressionen missbraucht. In einem Video-Statement äußerte sich Daniel Domscheit-Berg, der zu den Gründungsmitgliedern von Wikileaks gehört, zur prekären Situation seines ehemaligen Mitstreiters. Der kürzlich selbst inhaftierte Journalist Moussa Tchangari berichtete über die Bedrohung der Pressefreiheit in Niger und seinen Kampf darum, publizistisch tätig werden zu dürfen. Stephan Hebel von der Frankfurter Rundschau skizzierte den immer stärker hervortretenden Widerspruch zwischen der privatwirtschaftlichen Organisationsform der Medien und ihrem Aufklärungsauftrag. Die Autorin Sylke Gruhnwald verwies auf die Schwierigkeit von kritischen Journalisten, Missstände in der Wirtschaft öffentlich zu machen. Die freie Journalistin Franziska Grillmeier berichtete von der Behinderung ihrer Berichterstattung über die Situation im Flüchtlingslager auf Lesbos.

Live aus Wien zugeschaltet war auch die Komponistin Iris ter Schiphorst, die betonte, dass mit Julian Assange das freie Wort angeklagt sei und man keinen Präzedenzfall zulassen dürfe. Formal spiegelt sich in ihrem streng dualistisch aufgebauten Werk ein dramatisches Ungleichgewicht der Kräfte. Die von der Sopranistin Sarah Maria Sun mit furiosem Vokalspektrum intonierte Gesangstimme symbolisierte das gefährdete Individuum, dem das Ensemble Modern mit seiner geballten Klangmacht als übermächtiges Kollektiv gegenüberstand. In unbarmherzig anschwellenden Crescendi setzte das Orchester der Gesangstimme zu, zwang sie in unnachgiebigen Rhythmen und infernalischen Temposteigerungen in die Knie – bis zur vollkommenen Zerstörung.

Wie grelle, scharfkantige Splitter waren Einspieler aus Medienberichten und Politiker-Statements von Theresa May bis Hillary Clinton in die Musik miteingestreut. Die Komponistin hatte sie aus einer Flut von O-Tönen herausgegriffen, um die öffentliche Kontroverse schlaglichtartig zu beleuchten. Eine aggressive Kakophonie sich überlagernder Stimmen brachte das Individuum schließlich zum Verstummen. Im Mahlstrom öffentlicher Meinungsäußerungen, die durch das Orchester rauschten, erlitt es einen vollständigen Sprachverlust. Drastischer und verstörender kann man das Mundtotmachen einer kritischen Stimme kaum in Töne fassen.