Ohne Berührung den Menschen berühren: Das Hessischen Staatsballett zeigt in „Startbahn 2020“ in einer Doppelpremiere Tanz an der langen Leine.
DARMSTADT. Not macht erfinderisch. Das gilt auch für die zwölf Tänzer und Tänzerinnen des Hessischen Staatsballetts, die sich am Freitag in einer Doppelpremiere unter dem Motto „Startbahn 2020“ mit eigenen Choreografien im Kleinen Haus des Staatstheaters Darmstadt vorstellten. Für den nötigen Abstand war gesorgt im Parkett wie auf der Bühne. Und damit wurde das Ziel erreicht, „ohne Berührung zu berühren“. So tanzt Rita Winder in „Threshold“ mit ihrem Partner an einer sechs Meter langen Leine, die den beiden zugleich Halt und Führung bietet. Oder Masayoshi Katori lässt eine Sechsergruppe zu den gemessenen Klängen von Richard Wagners Lohengrin-Vorspiel in gebotener Distanz nach dem Sinn des Lebens suchen, das Publikum zwischendurch ganz ohne Aktion dem Strom der Musik überlassend.
Natürlich gibt es auch die Lösung des Solotanzes. Isidora Markovic fragt in „As small as a world, as large as alone“ nach Orientierung in einer rätselhaften Welt, Tatsuki Takada verliebt sich als „Narcissus“ nach der Choreografie von Ludmila Komkova und zu Klängen von Nikolai Tscherepnin in sein eigenes Spiegelbild, symbolisiert durch eine silberne Maske, und Greta Dato zaubert mit „Nuance“ einen nostalgischen Swing auf den roten Teppich, den sie sich zur Musik der Royal Crown Revue selbst zu Füßen legt.
Dass die Tänzer und Tänzerinnen ihre Kunst auch in der Auseinandersetzung mit aktuellen, brennenden Fragen sehen, zeigt etwa Alessio Damiani, wenn er in „Mask 1522“ das Thema der Gewalt gegen Frauen ins Bild setzt mit Hilfe eines riesigen Schleiers. Oder wenn Ezra Rudakova im weiter ausgebreiteten Handlungsballett „Went walking through paradise“ die Ungerechtigkeit thematisiert, die im Gegenüber von Armut und Reichtum gegeben ist. Der brasilianische Tänzer Marcos Novais ruft in „Bento de Almeida“ zur Musik von Ezio Bosso eine persönliche Erinnerung auf, wobei er nach halsbrecherischem Tanz auf einem Schaukelstuhl seiner geisterhaft auftauchenden Großmutter begegnet.
Viel Fantasie haben die jungen Choreografen dabei in die Ausstattung eingebracht, in die einfachen, aber aussagekräftigen Kostüme, in die ausgeklügelte Beleuchtung, in die eine oder andere Videoinstallation. Rundum gelungen sind die Filmclips, die während der kurzen Pausen eingeblendet werden. Da erlebt man die Compagnie ganz privat mit einem Blick hinter die Kulissen, und man bekommt Hinweise auf das Problem der Sprachverständigung, mit dem ein international besetztes Team zu kämpfen hat. Solche Momentaufnahmen zeigen, dass auch der Humor beim Hessischen Staatsballett nicht zu kurz kommt.
Dass die Tänzer und Tänzerinnen nahtlos den Ideen ihrer Kollegen folgen, sich einfühlsam, artistisch und in perfekter Abstimmung bewegen, ist ein Beweis für die enge und strenge Zusammenarbeit, die auch im erzwungenen Kultur-Lockdown nicht zum Erliegen kam.