Christian Gerhaher beschert im Wiesbadener Kurhaus mit „Liedern aus des Knaben Wunderhorn“ Momente einmaliger Gesangskunst
Von Dietrich Stern
Christian Gerhaher gibt den Hörern den Eindruck, einem einmaligen Moment von höchster Intensität beizuwohnen.
(Foto: Ansgar Klostermann)
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WIESBADEN - Wie kommt es, dass der Sänger Christian Gerhaher den großen Saal des Kurhauses einschließlich des Orchesters der Elbphilharmonie und seines Dirigenten Krzystof Urbanski so in seinen Bann schlagen kann? Sein Auftreten ist bescheiden. Fast demütig stellt er sich hinter seinem Notenpult auf, als wolle er eine kleine Rede halten. Und dann hält er eine Rede, aber eine in Musik, und die ist gigantisch groß. Sieben „Lieder aus des Knaben Wunderhorn“ sind in eine inhaltlich zwingende Reihenfolge gebracht – von den freien Gedanken des Gefangenen im Turm, über die Liebe, die alles gesund macht, zum Beruf des Soldaten zu sterben und der kindlichen Sehnsucht nach dem ewigen Leben.
Unfassbarer Reichtum an Tönen
Gerhaher findet für die naiven, und darum umso bestürzenderen Gefühle der Volksdichtung einen unfassbaren Reichtum an Tönen. Sein Bariton kann lyrisch im Legato ausschwingen und ins Entrückte entschweben, er kann aber auch grimmig auffahren oder in panischer Angst fast weinen und klagen. Im Fröhlichen des Volkstons findet er, so wie Mahler es geschrieben hat, das Todtraurige. Zur Stärke des Gefühls kommt aber bei Gerhaher noch eine nur ihm eigene Qualität hinzu: Er sendet die Töne mit äußerst geschärftem, wachem Bewusstsein. Über den Gefühlen gibt es noch eine waltende Klarheit des Geistes. So bekommt man als Hörer den Eindruck, einem einmaligen Moment von höchster Intensität beizuwohnen. Entsprechend begleitet das NDR Orchester mit größter Konzentration und Einfühlung, sicher geleitet von dem jungen polnischen Dirigenten Krzystof Urbanski. Die Demut gegenüber dem Werk, die Gerhaher anfangs als Haltung vorgab, springt auf alle Musiker über und erzeugt Momente feinsten Zusammenspiels, die Mahlers orchestrale Wunder leuchten lassen.
Beim einleitenden Adagio aus Mahlers unvollendeter 10. Sinfonie war diese Magie trotz der sorgfältigen Ausgestaltung durch Dirigent und Orchester noch nicht zu spüren. Vielleicht hätten sie sich zuerst von Gerhahers glühend-wachem Dienst am Werk anstecken lassen sollen, um das schlafwandlerische Singen über dem Abgrund, das existenzielle Erleben von Zerfall und Abschied bei Mahler tiefer zu fassen. Nicht ganz einfach kehrt man nach der Pause zum „Kampf und Sieg“ in Beethovens Eroica zurück. Die Musiker können die Sinfonie im Schlaf. Der Paukist spielt locker auswendig. Durch die souveräne Kontrolle Urbanskis wirkt die Aufführung trotzdem frisch und unroutiniert. Es kommen auch die dunklen, fragenden, brüchigen Momente Beethovens zum Vorschein. Ein weniger gewohntes Werk hätte den Abend wohl besser abgerundet, nachdem Christian Gerhahers Präsenz alle in gesteigerte Aufmerksamkeit versetzt hatte.