Am Anfang waren die Zugvögel. Barbara Zeizinger sah sie zufällig im Fernsehen, wie sie im Schlick eines Inselstrandes nach Proviant gruben, die mit den langen Schnäbeln...
DARMSTADT. Am Anfang waren die Zugvögel. Barbara Zeizinger sah sie zufällig im Fernsehen, wie sie im Schlick eines Inselstrandes nach Proviant gruben, die mit den langen Schnäbeln etwas tiefer, die mit den kurzen an der Oberfläche. So blieb für jeden etwas. Daraus ist dann ein Gedicht geworden, das vordergründig die Vogelwelt beschreibt, aber auch das Erleben des lyrischen Ich hineinholt und ganz unangestrengt zu einer sinnbildlichen Verdichtung führt. „So viele Möglichkeiten. So ein Teilen vor der Flut“: Da sind die Vögel mit einem Mal verschwunden, und eine Frage der menschlichen Existenz klingt an.
Unaufwendig verbindet Barbara Zeizinger diese unterschiedlich lesbaren Ebenen miteinander. „Wenn ich geblieben wäre“, der neue Gedichtband der Darmstädter Autorin, muss seine Bedeutungen nicht herbeizitieren. Ganz selbstverständlich verbindet sie Beobachtung und Empfinden, deutet an, ohne auszusprechen, und türmt doch keine großen Rätsel auf; „ich möchte nicht verschlüsselt schreiben“, sagt sie. Und manchmal ist das Herangehen auch spielerisch wie im letzten Zyklus, der die Begriffsfelder des Wortes „Aufgehoben“ abtastet, vom sächlichen Aufheben bis zum Bewahren, vom Gefühl des Aufgehobenseins bis zum Aufheben, das am Ende einer Verbindung steht. Der Doppelsinn war im Katalog der Baden-Badener Ausstellung von Gerhard Richters Birkenau-Bildern formuliert, Bilder, die durch Übermalung die vorgefundenen Dokumente zugleich verbergen und bewahren.
So haben viele Gedichte ihre Entstehungsgeschichte, und beim Erzählen ist Barbara Zeizinger manchmal selbst davon überrascht. „Es ist mein bisher persönlichster Gedichtband“, sagt sie, aber die privaten Anknüpfungspunkte sind diskret eingeflochten. Die Gedichte gehen ja auch über diese Anlässe hinaus. Es sind Texte über Familie, Abschiede, Erinnerung, über das Fremdsein, und oft auch übers Unterwegssein und das Ankommen.
In Kurt Drawerts Textwerkstatt hat Barbara Zeizinger die Präzision und Verantwortlichkeit in der Wahl der Sprache gelernt. Auf das Echo zu achten, das jedes einzelne Wort erzeugt: Darauf kommt es an. Gerade auch in der spielerischen Begegnung mit Zitaten Georg Büchners, die im Zyklus „Grundton Büchner“ zu Sprungbrettern werden können für etwas ganz anderes. Manchmal ist es ein Bild, von dem Zeizinger sich anregen lässt, „manchmal liegt eine Zeile einfach da“, sagt sie, und dann kommen allmählich andere dazu.
Viele der Gedichte sind im Umfeld ihres ersten Romans „Am weißen Kanal“ entstanden, der die Autorin immer noch beschäftigt. Auf zwei Zeitebenen erkundete sie die tatsächliche Geschichte eines deutschen Kriegsverbrechens im italienischen Dorf Ceregnano, der Partnergemeinde Seeheim-Jugenheims. Inzwischen ist der Roman auch in Italien erschienen; die penibel genaue Übersetzung machte sogar kleinere Korrekturen notwendig. Da ist zum Beispiel von einem Leiterwagen die Rede, aber in Italien waren zweirädrige Karren gebräuchlich. Auch die gründliche Recherche kann Lücken haben.
Schon 2015 stellte die Autorin erste Passagen in Italien vor, weitere Lesungen werden jetzt im Oktober folgen. Die Erinnerung an die Opfer der Gewalt ist sehr lebendig, Jahr für Jahr werden bei einer Gedenkfeier ihre Namen verlesen, gefolgt vom Wort „presente“, gegenwärtig. Einmal besuchte Zeizinger 130 Dreizehnjährige, die im Verlauf der Lesung ganz still wurden. Dass eine deutsche Autorin die Geschichte dieser Verbrechen wieder ans Licht holt, hat Barbara Zeizinger in Italien große Aufmerksamkeit eingetragen.
Wie schlägt sich Vergangenheit in der Gegenwart nieder? Diese Frage beschäftigt Zeizinger immer wieder, auch bei ihrem aktuellen Romanprojekt, dem Mittelstück einer geplanten Trilogie. Diesmal wird die Geschichte der Deutschen im Sudetenland den Hintergrund bilden, wieder erzählt auf zwei Zeitebenen, auf denen Gegenwart und Geschichte Berührungspunkte finden.