„Unheimlich nah“ von Johann Scheerer

Mit Humor dem Trauma begegnen: Johann Scheerer erzählt, wie er die Zeit nach der Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma erlebte.

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. Am 25. März 1996 wurde der Hamburger Philologe und Sozialforscher Jan Philipp Reemtsma auf seinem Grundstück entführt. Nach 33 Tagen Gefangenschaft und Zahlung eines Lösegelds in Millionenhöhe wurde er freigelassen. Eine der spektakulärsten Entführungen jemals.

Schon 1997 erschienen unter dem Titel „Im Keller“ Reemtsmas Erinnerungen an den Tathergang; zwanzig Jahre danach schrieb sich auch sein Sohn, Johann Scheerer, zur Zeit der Entführung 13 Jahre alt, seine Erlebnisse von der Seele. In „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ erzählt Johann Scheerer, heute erfolgreicher Musikproduzent, von den langen Tagen der Entführung seines Vaters. In seinem neuen Buch „Unheimlich nah“ schildert er, was danach geschah: Aus der Befürchtung, dass sein Leben niemals wieder so sein werde wie vor der Entführung, ist Gewissheit geworden. Rund um die Uhr hat er Sicherheitspersonal auf den Fersen. Es gibt Schlimmeres, könnte man meinen, doch Johann Scheerer versteht es, den Verlust der Privatsphäre als unheimlichen Zustand zu schildern. In seinem Fall kommt erschwerend hinzu, dass er sich in der Pubertät befindet und nach Freiheit und Unabhängigkeit strebt. Ein mit 24-Stunden-Überwachung schlecht zu vereinbarendes Streben. Spontanität? Fehlanzeige.

„Unheimlich nah“ firmiert als Roman, aber die Parallelen zur eigenen Biografie von Johann Scheerer liegen auf der Hand. Viel von der Faszination dieser Geschichte ergibt sich aus dem Umstand, dass nur wenige sie erzählen könnten. Doch es hieße den Roman zu unterschätzen, wollte man ihn auf das Alleinstellungsmerkmal der tatsächlich miterlebten Entführung festnageln. Es ist vielmehr seine erzählerische und psychologische Kraft, die ihn besonders macht. Die Sicherheitsleute werden für das Einzelkind Johann zu Ersatzvätern und -brüdern. Der Junge fängt an, ihnen nachzueifern, trägt ab sofort auch Schwarz und schwere Stiefel. Im Buch erlebt Johann Scheerer die erste Liebe und Küsse, die nach Erdbeer-Lipgloss und Zigarettenrauch schmecken. Immer wieder streut er Jugendslang und Songtexte in seine Erzählung. Refrains, die sein damaliges Lebensgefühl in Worte packen. Über allem dräut die Frage „Wer bin ich?“. Scheerer erzählt auch davon mit untergründigem Witz, immer nach der Devise, dass Humor ein wichtiges Mittel der Traumabewältigung sei, wie es in „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ hieß.

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Wie dort erzählt Scheerer auch in „Unheimlich nah“ von der Tektonik einer besonderen Vater-Sohn-Beziehung. Das, was für den Vater Bücher, Lesen und Schreiben bedeutet, ist für den Sohn das Musik machen, Gitarren, Verstärker. Zwei Welten zwar, aber dasselbe manische Verlangen. Der Vater erscheint im neuen Buch als gleichzeitig präsente und abwesende, zusehends kränkliche Einsiedlerfigur, die Scheerer mal brutal, mal zärtlich in den Blick nimmt. Die meiste Zeit des Buches indes kreist das erzählende Ich um sich selbst und zeichnet den besonderen Weg von einem zarten Jungen zu einem exzentrischen Erwachsenen nach.

Auf Einladung des Literaturhauses liest der Autor am 17. März in der Centralstation Darmstadt.