„Hotel der Schlaflosen“ von Ralf Rothmann

Ralf Rothmann, hier bei der Verleihung des Gerty-Spies-Literaturpreises, hat ein neues Meisterwerk veröffentlicht. Archivfoto: hbz/Stefan Sämmer
© Archivfoto: hbz/Stefan Sämmer

Mit dem Blick des Henkers: Rothmann veröffentlicht eine Sammlung von elf Erzählungen, die es ausnahmslos in sich haben.

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. Seit Ralf Rothmann 1986 mit seiner Erzählung „Messers Schneide“ die literarische Bühne betreten hat, wächst seine Leserschaft beständig. Mit dem Roman „Stier“ setzt er 1991 ein markantes Signal seiner großen Kunst, Autobiographisch-Menschliches mit Gesellschaftlichem zu verbinden.

Mit „Hotel der Schlaflosen“ legt Rothmann nun einen weiteren Band mit Erzählungen vor – und die elf Texte haben es ausnahmslos in sich. Das kann man schon ahnen, wenn man das von John Cale stammende Motto „Fear is a man’s best friend“ zur Kenntnis nimmt. Tatsächlich beschleicht einen während der Lektüre das bange Gefühl immer wieder – dabei könnten die Erzählungen kaum unterschiedlicher sein. Man begleitet zunächst eine Frau in ihren letzten Stunden – und merkt das trotz einiger ganz leisen Andeutungen erst zum Schluss. Die ungemein starke Titelgeschichte versetzt die Leser ins Moskau der Stalin-Zeit: mitten hinein in dessen Terrorregime – und in die Perspektive eines seiner berüchtigten „Henker“. Wassili Michailowitsch Blochin soll für die Ermordung von zigtausend Menschen nicht nur verantwortlich sein: Er hat Tausende eigenhändig umgebracht, meist per Genickschuss. Major Blochin „erledigt“ Menschen nonchalant: als würde er lästige Fliegen töten. Infam, aber höchst wirkungsvoll erzählt Rothmann dies und die damit verbundene Erniedrigung der Opfer aus der Ich-Perspektive des entmenschlichten Täters: Die Akribie, der banale Zynismus, mit denen er sein Geschäft am Schriftsteller Isaak Babel – seinem Schwager – verrichtet, lassen erschauern.

Diese Erzählung ist derart gut geschrieben und von so mächtigem Einfühlungsvermögen, dass sie eigentlich in jedes Geschichtsbuch zur Stalin-Zeit gehört: Intensiver kann man der menschlichen wie der unmenschlichen Seite der grausamen Fakten nicht auf die Spur kommen. Rothmann benötigt dazu nur 20 Seiten – prallere, beklemmendere Literatur ist in diesem Jahr wohl kaum zu lesen.

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Obwohl auch die anderen Erzählungen die Angst und den Tod thematisieren, allerdings nicht mit dieser aufreibenden Intensität, liest man dieses Buch doch am liebsten „in einem Rutsch“ oder zumindest nur mit kurzen Pausen. Egal, ob es biografisch zurück ins Ruhrgebiet, ins Bergarbeiter-Milieu des Vaters, in Rothmanns eigene Zeit als Maurer, in die Berliner Gegenwart oder gar nach Mexiko geht: Ralf Rothmann ist überall atmosphärisch zuhause, vermittelt immer Authentizität und die breite Palette menschlichen Seins und Vergehens.

Durch diese Fähigkeit kommen den Lesern zwangsläufig sowohl die Situationen wie alle Protagonisten so nah wie bei kaum einem anderen Schriftsteller. Daher kann man „Das Hotel der Schlaflosen“ nur als weiteres Meisterwerk Rothmanns bezeichnen.