Abseits einfacher Wahrheiten: Auch in ihrem zweiten Roman erkundet Barbara Zeizinger aus Darmstadt wieder historische Spuren.
DARMSTADT. Eigentlich begann für Barbara Zeizinger die Geschichte schon im Jahr 1967. Auf einmal saß Pavel im Wohnzimmer der Eltern, der Student aus der Tschechoslowakei, der in der Folge des Prager Frühlings eine Deutschlandreise unternehmen konnte. Für die junge Frau war er die erste Liebe, wenig später erlaubten die Eltern eine Reise nach Prag. Sieben Monate und viele Briefe später, erinnert sich Zeizinger heute, wurde Prag besetzt, Alexander Dubceks Tauwetter wich dem sowjetischen Frost.
Die Erinnerung an einen Schlager von Hana Hegerová blieb, „Student mit roten Ohren, damals hat er mir geschworen, dass er ewig bliebe.“ Und es blieb das Interesse am Nachbarland, aus dem der Vater stammte. Mit den Liedern und Gedichten, mit dem Dialekt des Sudetenlandes ist Zeizinger aufgewachsen, auch wenn die Familie nicht mit der Verbitterung anderer Vertriebener an der alten Heimat hing. Aber erst spät kam die Idee, das Zusammenleben der Deutschen und Tschechen in diesem Landstrich zum Thema eines Romans zu machen. Wobei für die Autorin schnell klar war, dass sie keine einfachen Antworten liefern würde.
Der Vielfalt des Lebens gerecht werden
Politische Vereinnahmungen und einseitige Wahrheiten gab es auf beiden Seiten genug. Ihrem Roman „Er nannte mich Klárinka“ gelingt es, der Vielfalt des Lebens gerecht zu werden, den sehr individuellen Haltungen, die im deutschen Siedlungsgebiet der Tschechoslowakei in den dreißiger Jahren aufeinandertrafen, bis die Deutschen nach dem Krieg zwangsweise ausgesiedelt wurden. Nicht alle hatten der nazitreuen sudetendeutschen Partei zugejubelt, deren Führer Konrad Henlein mit dem zielstrebigen Schüren der Sudetenkrise den Vorwand lieferte für die Einverleibung des Gebietes durch das deutsche Reich. Und nicht alle Tschechen waren deutschfeindlich gesonnen. Im Gegenteil zeichnet der Roman ein Geflecht von Freund- und Feindschaften, von Anpassung und Widerstand, an dessen Ende das Verständnis gewachsen ist für die schicksalhafte Verstrickung, aus der sich Geschichte bildet.
Im Mittelpunkt steht die Liebe der jungen Deutschen Charlotte zum tschechischen Lehrer Filip. Zeizinger greift die Geschichte einer Tante auf, aber sie hat keinen familiären Schlüsselroman geschrieben, sondern eine Geschichte erfunden, die Wirklichkeit zusammensetzt. Klar, dass dieser Art des Schreibens gründliche Recherche vorausgeht, mehrfach besuchte Zeizinger das Städtchen Tachau, aus dem ihr Vater stammt und in dem sie die Handlung ansiedelt, sie sprach mit tschechischen Historikern, profitierte von den Lektüretipps des Pragers Josef Skrabek und dessen autobiografischen Erinnerungen „Die gestrige Angst“.
Gewachsen ist eine Geschichte von Liebe und Verrat, von politischem Druck und erzwungener Trennung. Dass daraus kein vordergründiges Melodram wird, verhindert die kluge Komposition der Erzählung. Die Darmstädter Studentin Maria erkundet das Tagebuch ihrer Großmutter Charlotte und findet die Geheimnisse der eigenen Familiengeschichte. Während sie daheim in Darmstadt ganz andere Sorgen hat, denn sie ist geflüchtet, nachdem sie einen Radfahrer angefahren hat, der ausgerechnet der Freund der Schwester wird. Der Blick auf die sudetendeutsche Wirklichkeit Anfang der vierziger Jahre verbindet sich mit der Darmstädter Gegenwart in den Achtzigern. Je weiter Zeizingers Erzählung von der Gegenwart entfernt ist, desto überzeugender gelingt ihr dieses Zeitbild, während das politische Leben der Enkelgeneration bisweilen stilistisch nicht immer überzeugend herbeizitiert wirkt, und dann stolpert man über eine kleine Panne wie den Protesten gegen die „Stadtbahn West“.
Insgesamt aber ist Zeizinger ein spannender und anrührender Roman gelungen, der Geschichte in den Geschichten erzählt. Das hatte ja schon das Romandebüt „Am weißen Kanal“ ausgezeichnet, das ebenfalls Gegenwart und Geschichte übereinandergelegt hatte, damals mit der Recherche eines deutschen Kriegsverbrechens in Italien. Der Roman ist inzwischen ins Italienische übersetzt, eine inzwischen über neunzigjährige Zeitzeugin der Geschehnisse schrieb einen bewegenden Brief. Und auch auf ihre sudetendeutsche Geschichte hat Zeizinger ähnliche Reaktionen erfahren, eine Leserin fand ihre eigene Geschichte wieder. Das Frühjahr, hofft sie, wird ihrem Buch weitere Aufmerksamkeit bescheren: Dann ist Tschechien Gastland der Leipziger Buchmesse.