Es ging auch ohne Nazis: Eine Studie erklärt den Sonderweg des Oberlandesgerichts Frankfurt nach dem Zweiten Weltkrieg.
. Schon bald nach 1945 machten sich die nationalsozialistischen Eliten auf entscheidenden Posten der jungen Bundesrepublik breit. Besonders trauriges Beispiel der Renazifizierung war die Justiz, wo etliche „Blutrichter“ ihre Rechtsprechung fortsetzten, nun eben nicht mehr im Dienste der Diktatur, sondern der Demokratie. Simmt so nicht überall, lautet der Einspruch von Georg D. Falk. Der ehemalige Richter am Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt, das einen Zivilsenat in Darmstadt hat, kann auf seine eigene Behörde verweisen, deren Personal er unter die Lupe genommen hat.
In seiner Eindeutigkeit ist das Urteil des Richters über Richter geradezu sensationell: Hessen und vor allem das OLG griffen „in hohem Maße auf emigrierte, politisch oder rassistisch verfolgte Richter sowie auf solche Juristen zurück, die nicht durch ihre frühere berufliche Tätigkeit im NS-Staat kompromittiert waren“. Das war etwa in der britischen Besatzungszone anders, wo örtlich die komplette Richterschaft vor und nach 1945 identisch blieb.
Unter den zunächst 51 Richtern des 1946 wiedereröffneten OLG Frankfurt indes fand sich nicht ein einziger „Parteigenosse“, doch das genügt Falk nicht. Gründlicher als im Massenbetrieb Entnazifizierung der 1940er Jahre stellt er eigene Kriterien auf, nach denen Richter als belastet oder unbelastet zu gelten hatten. Wichtiger als Formalien erscheint Falk zu Recht das Wirken der Juristen in den Jahren 1933 bis 1945. Ein Mitwirken an Sondergerichten (auch Darmstadt hatte eins), Strafsenaten mit politischen Verfahren oder Erbgesundheitsgerichten bedeutete demnach: ungeeignet für die Rechtsprechung in einer Demokratie.
Das ist das richtige Rüstzeug, um in einer 114 Köpfe umfassenden Sammelbiografie herauszufinden, ob und wie stark das OLG Frankfurt braun durchseucht war. Bei drei Untersuchungszeiträumen bis 1960 ergibt sich ein Befund: Unbelastete, darunter ehedem verfolgte Richter blieben in Frankfurt in der Mehrzahl. Angepasst allerdings hatten sich die meisten, und ausgerechnet der erste Präsident und sein Vize waren durch das Raster der damaligen Spruchkammerverfahren geschlüpft: zwei Angebräunte ohne NSDAP-Parteibuch.
Anfang der 1950er Jahre gab es eine kleine Wende, wie Falk erläutert: „Es kam jetzt die Zeit der Mitläufer.“ Schlimme Finger waren unter den im Zeichen der Personalnot und minderem Interesse an der Vergangenheit Bestallten, etwa der Darmstädter Sonderrichter Ludwig Rühl oder Alexander Landmann aus Rothenberg im Odenwald. Für den mindestens dubiosen Rudolf Pagé verwendete sich ausgerechnet Darmstadts erster Nachkriegs-Oberbürgermeister Ludwig Metzger. Sein Nachfolger Ludwig Engel gehörte als Sozialdemokrat mit jüdischen Wurzeln selbst 1949 bis 1951 dem OLG an. Engel steht für eine Reihe beeindruckender Biografien von verfolgten Juristen, zu denen sich im Band diejenigen Robenträger gesellen, die Nein sagten, als fast alle Ja sagten zum totalen Terror.
Bei allem Eindruck ermüdet es auf Dauer ein wenig, derart viele Karrieren auf Personalakten-Basis vorgestellt zu bekommen. Das ist eine von nur zwei Schwächen eines starken Buchs. Die andere: Gelegentlich geht der Gaul mit dem Juristen durch; dann wirft er mit Jargon wie „obiter dictum“ um sich. Das gehört für Falk gewiss zur methodischen Redlichkeit, mit der er auch noch einen Bonustrack auflegt.
Selbst der hessische Sonderweg abseits einer von Nazis okkupierten Nachkriegs-Justiz führte der Studie zufolge nämlich nicht zur Selbstreinigung des Systems. So streng die Richter etwa gegen Euthanasie-Ärzte urteilten, so stumpf blieb Justizias Schwert, wenn es gegen ehemalige „Blutrichter“ ging, ein Begriff der in diesem Fall nicht substanzlosen DDR-Propaganda. Von der landläufigen „Krähentheorie“ will Falk nichts wissen; er sieht einen dauerhaften Justizirrtum als Grund für das „folgenschwere Versagen bundesdeutscher Strafjustiz“. Bis 1995 habe die Auffassung, ein Richter sei selbst offenkundig terroristisch grundiertem Recht verpflichtet, ausgerechnet Überzeugungstäter geschützt.
Ein Makel also auf der ziemlich fleckenlosen Weste der hessischen Justiz nach 1945. Ihre Erfolgsbilanz schreibt der schreibende Richter den treibenden Kräften zu: Leuten um Georg August Zinn, Justizminister, später lange Zeit parallel Ministerpräsident, sowie einer Connection zuvor widerständiger Juristen aus Oberschlesien.
Im vorwiegend sozialdemokratisch geprägten Juste milieu, das räumt Falk ein, konnte die rechte Gesinnung schon mal wichtiger als die richtig gute Expertise sein. Aber was wäre die Alternative gewesen?
Von Christian Knatz