Der Schmerz als Zeichen: Kurt Drawert gelingt in seinem neuen Roman eine eindringliche autobiografische Recherche.
. Da ist die Sache mit der Schulter. Der Erzähler besucht seine Mutter zum ritualisierten Sonntagskaffee, die Filtertüte ist akkurat gerichtet, die Teller stehen bereit, aber der Sohn hat den Kuchen vergessen. Die Mutter ist enttäuscht, so wie damals, als der Bub mit dem falschen Bohnermittel nach Hause kam. Also zieht er noch einmal los, aber die Kuchenmission geht böse aus, Glatteis, Sturz, abgerissene Sehnen, eine zerstörte Schulter.
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Und Schmerzen ohne Ende. Für Kurt Drawert werden sie zur Metapher für den Weltschmerz. Es sind Schmerzen, in deren Hintergrund die Angst steht, an den Schmerzen der Mutter zu leiden, es geht zugleich um das Leiden am Vater, „durch den das Land zu mir sprach“. Denn dieser Autor sieht in allem ein Zeichen, ja, sein neuer Roman „Dresden. Die zweite Zeit“ handelt gerade davon, die eigene Welt als System von zu entschlüsselnden Zeichen zu lesen. Für Drawert gibt es kein Schreiben, das nicht autobiografisch ist, er ist radikal in der Haltung, alles auf sich zu beziehen. Worauf auch sonst? Und mit jedem seiner Bücher definiert er das Verhältnis von Erzählung und Wirklichkeit neu. Viele Schriftsteller legen autobiografische Fährten, und die feine Trennlinie zwischen erzählendem und tatsächlichem Ich wird bisweilen zur Ausflucht, sie entschuldigt Ungenauigkeiten, und manchmal bemäntelt sie auch die fehlende Aufrichtigkeit.
Solche Auswege gönnt sich Kurt Drawert nicht. Seine Offenheit ist unbequem sich selbst gegenüber. Immer wieder sucht er die schmerzhafte Begegnung mit der eigenen Familiengeschichte und zugleich die mit dem ostdeutschen Staat, der ihn besonders dadurch demütigte, dass er ihm die Bildungschancen verweigerte. Das Leiden an der Diktatur und an der Familie ist untrennbar, eines ist dem anderen eingeschrieben, nicht nur deshalb, weil der autoritäre und stets gewaltbereite Vater als Kriminalbeamter ein Repräsentant des realsozialistischen Staates war. Drawerts erster Roman „Spiegelland“ hatte, kurz nach dem Ende der DDR, sich dem Komplex erzählerisch und andeutungsweise genähert, deutlich genug freilich, um den Autor von seiner Familie zu entzweien. Das Taschenbuch ist gleichzeitig mit dem „Dresden“-Roman neu aufgelegt worden: eine lohnende Wiederentdeckung. Sein zweiter Roman „Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte“ zeichnete das Gewaltsystem allegorisch als gigantisches Bergwerk, in dessen dunkler Tiefe eine verlorene Kaspar-Hauser-Figur zermahlen wird.
In „Dresden. Die zweite Zeit“ erreicht der Autor eine neue Stufe seiner analytischen Schärfe. Es ist auch ein Buch über das Erzählen selbst als schonungslose Selbsterkundung, über das gewiss nicht deckungsgleiche Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit. Drawert gönnt sich kein Versteck, und er ist mutig genug, seine eigene Geschichte als Spiegel der Zeit zu deuten. Es gibt ja auch keinen anderen. Die Rückkehr nach Dresden, das der 1985 verlassen hatte, bildet den losen Rahmen dieses Romans, der den literarischen Gattungsbegriff sehr weit dehnt mit seinem Wechsel aus Erzählung, Analyse, Essay, Assoziation. Die sächsische Hauptstadt mit ihrer selbstverliebten Kunstpracht ist dafür die Folie; Drawert hat das DDR-Dresden verlassen und kehrt als Stadtschreiber ins Pegida-Dresden zurück, er findet ähnliche Muster und analysiert überzeugend, wie die narzisstische Eigenliebe zur psychogenen Wurzel des Hasses auf alles Fremde wird. Ines Geipel hatte erst kürzlich in ihrem Buch „Umkämpfte Zone“ am Beispiel der eigenen Familie eine Linie von der DDR in die rechte Gegenwart gezogen, Ingo Schulze verfolgte in „Die rechtschaffenen Mörder“ den Weg des deklassierten Bildungsbürgertums ins politische Abseits.
Drawert ist kompromissloser, und so gelingt es ihm, das Mosaik aus Erinnerungen und aktuellen Eindrücken mit staunenswerter Präzision zu ordnen. Vor allem die schonungslose Offenheit sich selbst gegenüber gebietet Respekt. In jenen Passagen beispielsweise, in denen der Autor mit seiner eigenen Vater-Abrechnung abrechnet und sich die Verbindung eingesteht, die er doch loswerden wollte; besonders bewegend ist die Szene einer gescheiterten Annäherung bei der gemeinsamen Wanderung auf den Vesuv. Anrührend erzählt wird auch die tragische Geschichte des verstorbenen Bruders, die sich erst spät ins Bild schiebt; überhaupt gelingt es Drawert, in der Montage seiner unterschiedlichen Herangehensweisen eine subtile erzählerische Dramaturgie zu entwickeln.
Dabei gibt es auch Passagen, in denen die erzähltheoretische Selbsterforschung, die schreibende Beobachtung des eigenen Schreibens, den Leser fordert. Aber in vielen Episoden denkt man, als komme der Erzähler seiner Mutter entgegen, die er stöhnen lässt: „Ach, wenn du immer so schwierig schreibst, dann versteht das doch keiner.“ Gerade, indem Drawert sein Erzählen im Akt des Schreibens seziert, das Ergebnis nicht mit Geschichten verstellt, gelingt ihm eine große Klarheit in dieser eindringlichen autobiografischen Recherche.