Volker Reinhardt hat in seinem Buch "Die Macht der Schönheit" zusammengetragen, was eine zersplitterte Nation immer geeint hat.
. Venedig, Mailand, Turin, Florenz, Siena, Rom, Neapel oder Palermo: Mag sein, dass im Corona-Jahr alle Hochburgen italienischer Kunst- und Kulturgeschichte als Reiseziele ausfallen. Doch die Lektüre von Volker Reinhardts Buch "Die Macht der Schönheit" kann sicher auch wahren Liebhabern der "Italianità" den Urlaub auf Balkonien versüßen. Denn der Wälzer macht auf über 600 Seiten und einer Tour vom elften Jahrhundert bis in die Nachkriegsjahrzehnte hinein klar, was sich hinter diesem gern gebrauchten Begriff eigentlich verbergen könnte.
Schließlich gibt es einen Staat Italien erst seit 1861 und dieses sogenannte "Risorgimento" war keineswegs ein "Auferstehen" (so die Übersetzung) alter nationaler Strukturen als Königreich. Es war ein wieder Mal mit Waffen durchgesetztes Konstrukt von Machtpolitik auf der einen Seite, philosophisch-künstlerischer Ideenwelten und Schwärmereien auf der anderen - das macht Reinhardt anhand berühmter Bilder, Musikwerken und Architekturen, aber auch Geistes- und Rechtsgeschichte mit wissenschaftlichem Tiefgang und lockerer Sprache deutlich.
Sein Buch könnte zu einem neuen Standardwerk werden. Denn hier lernt man Italien in 65 Kapiteln als jahrhundertelangen (oft kriegerisch geführten) Wettstreit von Stadtstaaten, Päpsten sowie der "Kolonialmächte" Spanien, Frankreich und Österreich kennen. Getragen wurde diese Konkurrenz, die seit dem Mittelalter zugleich für Vielfalt, Innovationskraft und vollkommene Kunstwerke stand, jeweils von der einheimischen Oberschicht, dagegen immer wieder eher ertragen vom einfachen Volk - bis spätestens mit der Eroberung durch Napoleon 1796/97 deutlich wurde, dass dieses alte Mit- und Gegeneinander sich im neuen, bürgerlich wie nationalistisch geprägten Europa überlebt hatte.
Gegliedert ist das Buch dabei in sechs Teile. Vom 11. bis zum 14. Jahrhundert geht es um die "Macht der Städte", "Der Hof und die feinen Leute" bestimmten das 15. und 16., "Harmonien und Dissonanzen" das 16. und 17. Jahrhundert. Für "Ausgrabungen und Aufklärung" steht das 18. Jahrhundert, während das 19. Jahrhundert für Reinhardt vom "Traum der nationalen Wiedergeburt" geprägt war. Hier fließt tiefes Wissen aus seinen vielen früheren Italien-Publikationen ein. Der Leser lernt dabei - nur beispielsweise - en Detail Hintergründe der venezianischen Dogen-Republik kennen oder Giottos Arena-Kapelle in Padua, Leonardos Naturstudien, den Renaissance-Feudalismus im Süden, Palladios Villen im Veneto, Monteverdis frühe Opern, die Entdeckung Herculaneums und Pompejis und Manzonis "Brautleute"-Schauspiel.
Schade nur, dass der letzte Teil des Buches "Futurismus, Faschismus, Fashion und Film" fast hektisch von der Malerei des frühen 20. Jahrhunderts über die Kulturpolitik des Diktators Benito Mussolini, die Industriearchitektur von Fiat und das Kino nach 1945 bis zu den Mailänder Modeschauen oder der nationalen Fußball-Leidenschaft unserer Tage eilt. Auch hier wäre der Leser Reinhardt gern noch eine ganze Weile gefolgt in Erklärungen zu einem Land, das so viel mehr ist als Mafia und Meer, Pizza und Politiker wie der Rechtsradikale Matteo Salvini.
Von Annette Krämer-Alig