Mit neuen Liedern und einem Buch will der Pfarrer Achtsamkeit wecken für besondere Momente. Er hat sie unter anderem auf einem Kreuzfahrtschiff mit Corona-Patienten erlebt.
OBER-RAMSTADT/RIMBACH. Der Verlag war nicht begeistert. Dabei findet Clemens Bittlinger sein Wortspiel immer noch gut. Schutzengel kennt jeder. Aber wenn man ihr Wirken genau anschaut, sind es oft Schubs-Engel, die dem Menschen einen Impuls zur Veränderung geben. Und weil Clemens Bittlinger nicht nur Liedermacher ist, sondern auch Pfarrer, hat er das passende Beispiel gleich zur Hand. Wie ist das mit Jakobs Traum von der Himmelsleiter, auf der Engel auf- und absteigen? Er lehrt Jakob die Ehrfurcht vor der Größe Gottes, Fluch verwandelt sich in Segen, Jakob wird einer der Urväter des Glaubens.
Bittlinger erzählt davon in seinem neuen Buch, das also nicht „Gib mir einen Schubs, Engel“ heißt, sondern „Leih mir deine Flügel“. Vielleicht etwas langweiliger, aber auch dieser Titel ist ein einfaches und passendes Bild für die Leichtigkeit, die er vermitteln will. Der Autor, Pfarrer für Ökumene und Mission im evangelischen Dekanat Darmstadt-Land, erzählt die biblischen Geschichten neu, und er ist immer auf der Suche nach dem, was das Engelsbild dem Menschen mitteilt. Ausgerechnet Engel! Dabei sind die ja gerade in esoterischen Kreisen zum Bild des Übersinnlichen geworden. Das weiß auch Bittlinger. „Deshalb wollte ich ein bisschen kantiger an die Sache rangehen, ohne in den Kitsch zu verfallen.“
Die Songs des neuen Albums machen das in der bewährten Mischung aus eingängigen Melodien, markanten Rhythmen und Versen, die dem Sinnspruch immer wieder nahekommen. Und die doch musikalische Widerhaken setzen können, um die Aufmerksamkeit für den Inhalt zu wecken. Der kann auch humorvoll geschildert werden, wenn er im Buch den Esel des Propheten Bileam erzählen lässt, der einen Rache-Engel erkennt und dadurch selbst zum Retter wird. Im Song mündet das dann in den Reim „Ein Esel wird zum Engel, die Bibel zeigt Humor, / und der, der sich Prophet nennt, benimmt sich wie ein Tor.“ Produziert und mitkomponiert sind auch die neuen Stücke von David Plüss, ein Stück hat auch Oliver Gies geschrieben, der Sänger, Texter und Komponist des A-cappella-Ensembles „Maybebop“ – mit einem Text, der den Begriff der Engel ausspart, aber in der Reim-Lücke als Imagination mitschwingen lässt.
Das passt nicht schlecht zur Botschaft Bittlingers, der Achtsamkeit wecken möchte für mögliche Engelsbegegnungen im Alltag – und für Gelegenheiten, bei denen der Mensch für andere zum Engel werden kann. Das ist nah an der Lebenswirklichkeit, aber immer auch verankert in den biblischen Erzählungen. Und der Pfarrer scheut sich nicht, Ereignisse, die andere vielleicht Glück nennen würden, mit Engeln in Verbindung zu bringen. Das einzige Taxi weit und breit am Corona-verlassenen Frankfurter Flughafen? Da kann man zurecht sagen: „Sie schickt uns der Himmel.“
Oder Maria, die Assistentin des Kapitäns Morten Hansen auf dem Kreuzfahrtschiff MS Artania: Mit ihrer Freundlichkeit und Gelassenheit wurde sie für viele Passagiere zum Engel, auch für Bittlinger, der in denkbar ungünstigen Zeiten als Bordseelsorger angeheuert hatte. Mittags war der Pfarrer nach Sydney aufgebrochen, abends kam die Pandemie-Warnung der Weltgesundheitsorganisation. Aus der Kreuzfahrt durch die Südsee wurde nichts, die überwiegend deutschen Passagiere harrten der Dinge, bis an Bord Fieber ausbrach, sieben Covid-19-Patienten evakuiert wurden, die Presse vom „Seuchenschiff“ schrieb. Die Passagiere saßen in ihren Kabinen in Quarantäne, und in der leeren Lounge hielt Bittlinger ihnen einen Videogottesdienst und las auch mal die Messe für die katholischen Crew-Mitglieder von den Philippinen. Und wenn die den Gästen das Essen servierten, brachten sie so viel gute Laune mit wie möglich. „Für mich“, erinnert sich Bittlinger, „sind sie in die Gänge eingefallen wie die himmlischen Heerscharen.“
Auch dieses Kapitel hat noch Eingang in sein neues Buch gefunden. Und auch auf der CD gibt es als Bonustrack den Song „Seltsam“, der die Erfahrung aus der Corona-Zeit formuliert, dass Menschen aufeinander angewiesen sind. Und dass sie trotzdem Grund haben zur Leichtigkeit, soll ein getöpferter Flügel symbolisieren, den man mit Grußkarte zu Buch und CD ebenfalls erwerben kann. Bittlinger, klar, trägt ihn um den Hals: „Ich bin ein Freund von Ritualen und Gesten“, sagt er. „Es ist ein Reminder, der sagt: Schenk mir Leichtigkeit!“