Voltaire schickte seinen Titelhelden in einem satirischen Roman auf Reisen. Am Sonntag präsentierte der Schauspieler in Darmstadt in Erstaufführung eine szenische Lesung dazu.
DARMSTADT. Die von Voltaires Antihelden „Candide“ erfahrenen Übel des 18. Jahrhunderts stellen sich in der Corona-Zeit noch einmal ganz anders dar. Darum haben sich der Schauspieler Christian Klischat und der Regisseur Götz Brandt im Frühjahr, kurz nach dem Shutdown, bewusst für diesen Stoff entschieden: Als szenische Lesung hat Klischat den satirischen Roman von 1759 im Darmstädter Theater im Pädagog (TiP) am Sonntag erstmals aufgeführt.
In T-Shirt und Jeans sitzt er am Tisch, eine Lampe aufs Manuskript gerichtet, von dem er sich aber immer wieder löst und lange Passagen frei vorträgt. Kennt man Klischat aus anderen Theater-Soli mutet diese Lesung ungewohnt statisch an, dennoch zieht er sein Publikum, rund 30 Gäste, zwei Stunden lang in seinen Bann. Denn Klischat nimmt mit auf die abenteuerliche Reise des arglosen Candide, variiert dabei Lesetempo und Lautstärke im dramaturgischen Verlauf, setzt Mimik und Gestik intelligent ein. Jedes Detail ist bedacht.
Schnell erkennt der Zuschauer die wiederkehrenden Figuren. So lässt er etwa den tumben Protagonisten, der sich optimistisch in Leibniz’ „Bester aller möglichen Welten“ wähnt, die Voltaire hier persifliert, mit Zischlaut sprechen: „Schie schind es, schie leben“, stammelt Candide beispielsweise, als er seine Kunigunde wiedersieht. Eine alte Frau verkörpert er, indem er sein T-Shirt über den Kopf zieht. Er beatboxt, trommelt mit den Fäusten und wedelt mit den Textseiten. Die Geschichte: Weil Candide die Hand der Tochter des Barons geküsst hat, bei dem er als uneheliches Kind aufwuchs, wird er aus dem Schloss in Westfalen, dem „irdischen Paradiese“, gejagt – und geht auf weite, allzeit absurd-gefährliche Reisen. Christian Klischat kündigt diese Ortswechsel immer mit einem lautmalerischen „ssssssst“ an.
So lässt Candide sich halb tot ins Regiment des Königs von Bulgarien werben, darf zwischen 36 Peitschenhieben oder zwölf Bleikugeln ins Hirn wählen, findet sich jedoch wundersam geheilt in Holland wieder, wo er auch seinen Lehrer Pangloss wiederfindet. Candide reist seinem Optimismus treu bleibend trotzdem weiter: nach Lissabon, wo er Pangloss wegen Ketzerei hängen sieht, aber Kunigunde wiedertrifft, die auf der Flucht ist. Candide erdolcht ihre Widersacher kurzerhand und flieht mit Kunigunde nach – ssssssst – Spanien.
Von da geht es weiter: über Paraquay ins wundersame Königreich Eldorado, nach Surinam, Marseille, Venedig und Konstantinopel, wo er auf die nun alte Kunigunde stößt. Gemeinsam mit ihr, Pangloss sowie dem Pessimisten Martin lässt Candide sich schließlich in den – sssssst – Bergen nieder. Und kommt zu dem Schluss, dass in der „Besten aller möglichen Welten“ alle Ereignisse irgendwie verkettet sind, es aber trotzdem gut sei, „sein Gärtchen zu bestellen“ – frei nach Voltaires Moral: „Il faut cultiver son jardin“.