In Hamburg spielen Schokoküsse Verdi, in Helsinki tanzt Pippi Langstrumpf: Wer aktuell nicht in sein Stammtheater darf, findet kreative Bühnenkunst im Internet.
Von Johannes Breckner
Leiter Kulturredaktion Darmstadt
Pippi Langstrumpf tanzt auf der Online-Bühne des Opernhauses von Helsinki. Von links: Atte Kilpinen, Linda Haakana, Valeria Quintana. Foto: Mirka Kleemola
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Violetta Valéry ist ein Schokokuss. Mit weißem Überzug, damit man sie besser unterscheiden kann von ihrem Verehrer Alfredo, der trägt dunkelbraun. Auf einem Hamburger Küchentisch kommen sie sich näher, während die Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters die Melodien aus "La Traviata" spielen, deren Geschichte hier in drei Minuten und 57 Sekunden abgehandelt wird, bis hin zum tragischen Tod, bei dem Violetta auf einem aus Klorollen gebauten Boot mit Teebeutel-Segel davonfährt. So vertreibt die Hamburgische Staatsoper ihrem Publikum die Zeit, das daheimbleiben muss wie alle Akteure auch.
Die "Hamburg Kitchen Opera" ist eine der schönsten Reaktionen der Theater, die gerade ihrem Kerngeschäft nicht nachgehen können und doch den Kontakt zum Publikum halten wollen. Und wer seinen Job als Zuschauer so ernst nimmt wie die Akteure des Bühnenbetriebs, hat derzeit eine Menge zu tun. Sich durch die Vielfalt der Online-Angebote durchzupflügen, das Besondere vom Läppischen zu scheiden, die vielen Botschaften aufzunehmen, mit denen die Kommunikationskünstler sich auf dem heimischen Bildschirm melden: Es gibt schlechtere Arten, seine Tage zu verbringen.
Ohne ein bisschen Technik-Tüftelei geht es nicht
Ein bisschen Technik-Tüftelei gehört im Übrigen dazu, vor allem dann, wenn der Fernsehapparat nicht mehr der jüngsten Generation angehört. Mit Theatern, die ihre Online-Angebote auf Plattformen wie Youtube oder Vimeo einstellen, lässt sich leicht kommunizieren. Auch die Bayerische Staatsoper mit ihrer ganz eigenen Technik kommt zuverlässig ins Haus. Beim Berliner Ensemble hingegen: keine Chance, Michael Thalheimers Version des "Kaukasischen Kreidekreises" läuft nur auf dem kleinen Tablet-Fenster. Wahrscheinlich gibt es einen Trick, aber wer will schon lange basteln, wo doch andere Angebote warten? Gerne würde man auch den einen oder anderen Abend in der Wiener Staatsoper verbringen. Die App des Hauses herunterladen - klappt einwandfrei. Mit einem Passwort registrieren? Warum nicht. Dann aber will ein Abo gekauft werden. Für gute Inhalte will man ja auch bezahlen, aber wer weiß, ob dann die Übertragung funktioniert?
Online-Spielpläne für den Überblick
Dann doch lieber zu den freien Angeboten, von denen viele täglich wechseln. Einen einigermaßen verlässlichen Online-Spielplan bietet das Portal nachtkritik.de. Schön, dass die Bühnen in ihren Online-Spielplänen auch den eigenen Stil präsentieren.
Das gilt vor allem für die Schaubühne Berlin, die mit ihren epochalen Inszenierungen prunkt. "Hedda Gabler" mit Katharina Schüttler und Lars Eidinger hatte schon vor 15 Jahren Premiere, inzwischen ist am Lehniner Platz die 250. Vorstellung gespielt worden, wie 249 Abende zuvor vor ausverkauftem Haus. Ist ja auch nicht schlecht, wie die Aufzeichnung beweist. Noch besser: "Schlusschor" von Botho Strauß, damals das Stück zur kollektiven Befindlichkeit im vereinten Deutschland, besetzt mit dem "Who's who" der deutschen Schauspielkunst. Und man merkt, wie selten so wunderbare Sätze geworden sind wie "Ich starre nicht. Ich halte nur mein Aussehen fest." Die Münchner Kammerspiele verteidigen ihren Ruf, einer der abgefahrensten Spielorte der Republik zu sein. Fürs Online-Gucken sind diese Abende aber nur bedingt geeignet. Denn daheim vor dem Bildschirm ist die Geduld dann doch nicht unendlich, die es braucht, sich auf ein anspruchsvolles Kunstereignis einzulassen. Im Live-Theater zwingt erst einmal das gute Betragen zum Sitzenbleiben, und deshalb gibt man der Kunst längere Bewährungschancen. Wer die Kammerspiele nur virtuell besucht, geht zwischendrin wahrscheinlich zu oft an den Kühlschrank.
Auch Lokalbühnen haben Online-Angebote in petto
Und was bieten die Bühnen der Region? Darmstadt schlägt sich wacker mit seiner "Täglichen Dosis" und vor allem mit der Lesungsreihe "Vitamin L". Auf der Seite des Mainzer Staatstheaters gibt es eine bunte Schnipsel-Vielfalt, unter anderem kann man Generalmusikdirektor Hermann Bäumer bei einer musikalischen Ausgrabung beobachten. Mit dem Spaten befördert er im Garten einen Klavierauszug von "Lalla-Roukh" zutage, einer Oper des kaum noch bekannten französischen Romantikers Félicien David. Vielleicht ist das ja ein Hinweis auf den nächsten Spielplan. Wiesbaden ist auffallend sparsam mit dem Online-Angebot, immerhin greift der Opernchor-Sänger Adolmir Mollov zum Akkordeon und singt eine herzhafte Version von "Funiculi, Funicula", und Iris Limbarth spielt eine Szene aus dem "Weißen Rössl" nach. Aus Gießen Funkstille, Marburg punktet mit der Online-Serie "#LiebeindenZeitenderCorona".
Und alle konkurrieren mit dem reichen Angebot jener Sender, die sich ja ohnehin auf Kultur spezialisiert haben. Das ZDF lässt Moritz Eggert kurze Opernfassungen ganz ohne Musik erzählen oder bietet "Aida" mit Netrebko, 3sat lässt die Wahl zwischen "Rigoletto" aus Bregenz oder der "Zauberflöte" aus Sankt Margarethen. Und in der Arte-Mediathek zahlt es sich aus, dass der Kulturkanal schon im vergangenen Herbst ein europäisches Opernhaus eröffnet hat mit Beiträgen aus Genf oder Paris, Hamburg oder Wien. Wann kommt man schon mal ins Opernhaus von Helsinki? Das sollte man nachholen, sobald es wieder geht, denn von dort kommt nicht nur eine spannende "Tosca" des Regisseurs Christof Loy, sondern auch der schönste Fund: "Pippi Langstrumpf" als Ballett von Pär Isberg, bei dem die Rotzopf-Göre kraftvoll in die gezirkelte Spitzentanz-Konvention einbricht. Das ist Gute-Laune-Theater, wie man es in diesen Tagen besonders gut brauchen kann.