„Sie konnten diesen Gaukler nicht begraben“ heißt ein Aufsatz, den Ariane Martin gerade in der „Zeitschrift für Germanistik“ publiziert hat. Darin schildert sie das...
MAINZ/DARMSTADT. „Sie konnten diesen Gaukler nicht begraben“ heißt ein Aufsatz, den Ariane Martin gerade in der „Zeitschrift für Germanistik“ publiziert hat. Darin schildert sie das Begräbnis des Dichters Frank Wedekind und seine literarischen Nachwirkungen. Wedekind starb vor hundert Jahren, am 9. März 1918. Im Gespräch gibt Ariane Martin Auskunft über seine bis heute andauernde Wirkung.
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Frau Professorin Martin, wird Frank Wedekind überhaupt noch gelesen?
Gewiss weniger als früher, sein großes Werk ist auf einen kleinen Kanon zusammengeschrumpft. „Frühlings Erwachen“ liegt ganz vorne, durch die Bühnen und auch durch die Schullektüre. Die Lulu-Dramen sind einigermaßen bekannt, ein wenig auch die Lautenlieder und die Kabaretttexte für die „Elf Scharfrichter“ in München. Gelegentlich auch noch der „Marquis von Keith“, wenn auch nicht mit hoher Aufführungsdichte. Die anderen Arbeiten sind leider in den Hintergrund gerückt und zum Spezialistenwissen geworden.
Das Begräbnis vor hundert Jahren in München war ein Massen- und Medienereignis. Wie kam es zu diesem Ruhm?
Frank Wedekind wurde von den einen geliebt und bewundert, von den anderen wurde er abgelehnt und mit größtem Misstrauen betrachtet. Heute ordnen wir ihn salopp als Modernen ein. Das war damals aber auch Grund für die Polarisierung, seine Gegner haben die Themen, aber auch die Formen abgelehnt.
Worum ging es in diesen Debatten?
Bei den Themen wurde vor allem die Schilderung der Sexualität als verstörend empfunden. Formal waren die Vermischung der Stilebenen besonders auffällig oder die Technik, Menschen aneinander vorbeireden zu lassen, ganz wie im wirklichen Leben.
Warum lohnt es sich, Wedekind als Leser zu entdecken?
Es lohnt, weil er eine ungemein lebendige und pointierte Sprache hat. Weil er ein scharfer Beobachter ist, der seine Themen witzig und auch provokant auf den Punkt bringt. Ich merke das in der Arbeit mit den Studierenden: Wenn man die Texte liest, werden sie auch wieder lebendig.
Können heutige Satiriker etwas lernen von Wedekind?
Ja, natürlich. Nicht plakativ zu sein, aber mit dem Plakativen ironisch zu operieren. Wedekind hat etwas Hintergründiges, aber er tut so, als sei es Oberfläche.
Wo würde Wedekind heute publizieren?
Es ist schwer, das zu imaginieren, weil es ganz andere Zeiten sind. Aber man würde ihn heute wahrscheinlich als Avantgarde-Kabarettisten kennen, der Themen unserer Zeit auf die Bühne bringt.
Am Anfang des Ersten Weltkriegs hat Wedekind ja auch noch einmal nationale Töne angeschlagen.
Da streiten sich die Forscher. Ich denke, das war Camouflage. Wedekind saß in den Münchener Kaffeehäusern nicht mit den Kriegsbegeisterten am Tisch, sondern mit entschiedenen Kriegsgegnern wie Heinrich Mann oder Erich Mühsam. Und es gibt Gedichte von ihm, die ungemein scharfe Kritik am Krieg üben.
Welche Lektüre-Tipps haben Sie für Wedekind-Einsteiger?
Wer überhaupt nichts von Wedekind kennt und gerne einen tragisch getönten Text lesen will, kann ruhig mit „Frühlings Erwachen“ anfangen. Wer intellektuellen Spaß hat und Freude am großen Witz einer scharfen Zeit- und Mentalitätssatire, der sollte den „Marquis von Keith“ lesen.
Wie kam die Wedekind-Forschungsstelle von Darmstadt nach Mainz?
Ich bin ja schon lange bei Wedekind dabei, 1996 habe ich die Briefe von Maximilian Harden mit Frank Wedekind ediert. Seitdem bin ich immer wieder in Darmstadt gewesen. Und als Hartmut Vincon seinen Ruhestand plante, fragte er mich, ob ich das nicht übernehmen wolle. Ich habe dann alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Forschungsstelle an die Uni Mainz zu holen. Das war nicht ganz einfach, aber es ist gelungen, der Umzug war im Sommer 2015.
Welches sind die anstehenden Projekte?
Die digitale Briefedition, gemeinsam mit der Hochschule Darmstadt, ist ein so großes Vorhaben, dass alle anderen Pläne erst einmal zurückstehen müssen. Alle Kräfte sind auf dieses Projekt gerichtet. Es ist auch wichtig, denn es gibt ein Netzwerk der europäischen Avantgarde, das wir erschließen wollen. Daneben wird die gerade begonnene Reihe „Wedekind in Einzelausgaben“ fortgeführt. Das wird den Autor im Wortsinn leichter greifbar machen.
Das Interview führte Johannes Breckner.