„Startbahn“ frei in Wiesbaden: Tänzer als Choreografen

Beziehung unter Spannung: Rita Winder und Marcos Novais zeigen in „Threshold“ ein Tauziehen der Geschlechter. Foto: De-Da Productions
© De-Da Productions

Lange konnte das Hessische Staatsballett nicht zeigen, was es kann. Jetzt dürfen Mitglieder der Company eigene Werke präsentieren.

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WIESBADEN. Nun gut, am Frankfurter Airport gehen abends zur besten Theaterzeit mittlerweile in 140 Minuten schon wieder mehr als ein Dutzend Flüge raus. Aber das Hessische Staatsballett hat ja auch keine drei Runways, sondern nur zwei Slots, um den Nachwuchs zu beflügeln. Und da sind zwölf Talentproben an zwei jeweils 70-minütigen „Startbahn“-Abenden im Kleinen Haus des Wiesbadener Staatstheaters ein toller Take-off nach drei Monaten Tanz im Lockdown. Ein Vierteljahr Kunst-Kontaktsperre samt Ballett-Budenkoller hat der Company nicht nur kreative Freiräume eröffnet, es hat auch offensichtlich zu einem enormen choreografischen Druck geführt, der sich nun hier abwechslungsreich entlädt.

Der erste Abend bringt gleich das am weitesten erzählerisch ausformulierte Stück: Ezra Rudakova legt mit ihrem Achtzehnminüter „Went walking through paradise“ ein apokalyptisches Öko-Tanztheater vor. Angetrieben ist das Stück von Regina Spektors kapitalismuskritischer Klage „The Trapper and the Furrier“ über die Ausbeutung von Natur, Arbeit und Gesundheit. Reisig liegt auf der Bühne herum, die fünf Tänzer türmen die Äste auf, sie winden sich am Boden, spritzen Wasser aus Schüsseln und beteuern ihre Unschuld am Untergang ihrer Umwelt, der sich im Video auf der Rückwand abzeichnet. Rudokova bringt viel Material ins Spiel, nicht alles wirkt tänzerisch ausgeformt, was gewiss auch damit zusammenhängt, dass die Corona-Regeln Nähe auf der Bühne im Grunde nicht zulassen. Aber als Parabel auf den Zustand unserer Welt ist das allemal ein einprägsames Stück.

Auch der Beitrag mit der vielleicht größten tänzerischen Strahlkraft ist am ersten „Startbahn“-Abend zu sehen: Ramon John, der in zwei weiteren Stücken auch als Tänzer seine filigrane Extravaganz ins Spiel bringt, konfrontiert hier ein Quintett mit dem Song „Travelling Light“ von den „Noisettes“. Und wie Manon Andral, Kristin Bjerkestrand, Margaret Howard, Sayaka Kado und Daniel Meyers die Energie des Songs sinnlich in eine Körpersprache der Sehnsucht umwandeln, das ist mitreißend.

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Trotz dieser beiden Höhepunkte ist es doch der zweite „Startbahn“-Abend, der mit drei Soli, drei Duetten und einem Trio zugleich abwechslungsreicher und qualitativ geschlossener wirkt. Ludmila Komkova schickt den Tänzer Tatsuki Takada zu Nikolai Tscherpins „Narcisse“-Musik als Halbgott der Selbstliebe auf die Bühne. Es ist eine anmutige Annäherung an den antiken Mythos mit neoklassischer Geste: Der Sohn des Flussgotts taucht mit seiner glitzernden Gesichtsmaske schließlich in weißen Bühnennebel ein und steigt ohne Maske wieder daraus empor. Komkova verweigert das tödliche Schmachten und die Verwandlung ihres „Narcissus“ in eine Pflanze, erlöst ihn stattdessen als Mensch.

Marcos Novais gestaltet sein Solo „Bento de Almeida“ rund um einen Schaukelstuhl nachgerade pantomimisch: Ein alter Mann will eine Blume an seine unsichtbare Geliebte überreichen, die erst am Ende dieser Elegie in Gestalt von Rita Winder aus der Erinnerung aufsteigt.

In ihrer Choreografie „Threshold“ zeigen die beiden auch das schönste und schlüssigste Duett des Abends: Mann und Frau sind mit einem Strick aneinandergebunden. Mal zerren sie aneinander, mal halten sie sich im Gleichgewicht, aber stets ist ihre Beziehung sehr sinnfällig unter Spannung. Es ist ein Tauziehen der Geschlechter. Erst als sie ihre Bindung lösen, werden ihre Bewegungen zu einer Klavier-Arabeske von Debussy so weich, dass Annäherung wieder denkbar scheint. Zu erleben ist sie an diesem Abend indes kaum. Nur Tänzer, die in häuslicher Gemeinschaft leben, dürfen sich auf der Bühne auch nahe kommen.

Körperkunst verlangt Intimität

So dreht sich der Tanz in Distanz oftmals notgedrungen im Kreis. Mit diesem Zirkelschlag lassen sich Hygiene und Ästhetik offenbar am engsten zusammenbringen. Das ist natürlich auf Dauer keine Lösung für eine Körperkunst, die auch Intimität braucht. In Zeiten der Pandemie sehnt man sich nach der Quadratur dieses Kreises. Und ist doch dankbar, dass überhaupt wieder Tänzer auf der Bühne sind und Zuschauer im Saal. Leider dürfen nicht alle Akteure gemeinsam auf die Bühne kommen, sonst würde es dort oben zu voll. Und leider darf das Parkett nur spärlich besetzt werden. So kann man die Tänzer gar nicht so heftig feiern, wie es sein sollte.